BUENOS AIRES/Argentinien – Genesis und Entwicklung des ColónRing 2008-2012 - 22. November 2012
Teatro Colón
Langsam, aber erfreulicherweise sicher, nähert sich die Premiere des auch im Online-Merker schon oft diskutierten „ColónRing“, einer Kurzfassung der Tetralogie „Der Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner, am legendären und in Sachen Wagner traditionsreichen Teatro Colón in Buenos Aires. Am 27. November 2012 wird es soweit sein. Nachdem die Öffentlichkeit in erster Linie durch das Engagement der Bayreuther Co-Festspielleiterin Katharina Wagner als Regisseurin dieser Produktion zu dem ungewöhnlichen Projekt informiert wurde, im vergangenen Oktober in besonders ausgiebigem Maße in den deutschen und argentinischen Tageszeitungen, empfiehlt sich einmal ein umfassender Blick auf die Entstehungsgeschichte und Entwicklung des Projekts. Diese sieht in mancher Hinsicht anders aus, als bislang allgemein bekannt ist.
Rosette über der Lobby
Bereits im Juni 2008 erzählt der Hamburger Musiker und Produzent Cord Garben Hans-Rüdiger Schlesinger, Kulturmanager auf Teneriffa, von seiner Idee einer gekürzten Fassung des „Ring“, die er auf jeden Fall anfertigen wolle. Noch habe er sie aber keinem Opernhaus angeboten. Daraufhin interessiert Schlesinger Lü Jia, den chinesischen Chefdirigenten des Teneriffa Sinfonie Orchesters, für die Idee. Dieser verfügt über gute Kontakte zum NCPA Grand Theatre Beijing. Das ist das große und spektakulär aussehende neue Opernhaus am Tiananmen Platz in Peking. Der „Ring“ wurde erst vor sieben Jahren zum ersten Mal in China aufgeführt, und zwar im Rahmen des Beijing Music Festivals im September 2005 im Theater des Poly Plaza Hotels, in der Nürnberger Produktion von Stephen Lawless unter der musikalischen Leitung von Philippe Auguin. Es war also Zeit für eine in China selbst entstehende Produktion, und so konnte Lü Jia Interesse beim NCPA wecken. Zur Expo 2010 in Shanghai gastierte die Kölner Oper mit dem „Ring“ in der Inszenierung von Robert Carsen, die der Autor im Grand Theatre zweimal gesehen und ausführlich im Neuen Merker besprochen hat.
Von Februar bis November 2010 finden Vertragsverhandlungen mit dem NCPA statt, mit mehreren Reisen Garbens und Schlesingers nach Peking. Es kommt zum Abschluss einer gekürzten „Ring“-Version von nur vier Stunden, als „China Ring“ bezeichnet. Diese Fassung wird von C. Garben erstellt. Das NCPA besteht jedoch auf die Zustimmung der „Familie Wagner“ zu dem Projekt, also auf eine Art offizieller Legitimation, da es sich um eine wesentliche Veränderung der Originalfassung handelt. Im September/Oktober 2010 erreicht Cord Garben von Katharina Wagner nicht nur die Zustimmung zu dem Projekt, sondern sie will auch selbst die Regie übernehmen. Im Winter kommt es auf Gran Canaria zu einem Treffen mit L. Jia und K. Wagner zur Besprechung der Regiearbeit und des Vertrages mit dem NCPA. Das „China Ring“-Projekt kommt jedoch bereits im Januar/Februar 2011 zum Stillstand, da das NCPA die aus Sicht eines Regisseurs prinzipiell unannehmbare Bedingung stellt, dass man keine Inszenierung wolle, die die Gefühle des chinesischen Volkes verletzen könne. Eine Zusicherung der Regisseurin reichte offenbar nicht aus, um diese Bedenken zu zerstreuen.
Aufgang zum großen Foyer
Dann erst beginnt die Suche nach einem neuen Aufführungsort für eine nun geplante siebenstündige Fassung in Montevideo, Santiago de Chile und Buenos Aires, und zwar allein aus einer logistischen Überlegung heraus: H.-R. Schlesinger hatte mit einem Residenten in Asunción, Paraguay, wegen anderer Projekte dort eine Agentur gegründet, Transopera SRL, von der aus auch der Findungsprozess für eine neue Aufführungsstätte im Cono Sur Südamerikas betrieben werden kann. Insbesondere auf Empfehlung von C. Garben kommt man am Ende auf das Teatro Colón, dessen Generaldirektor Pedro Pablo García Caffi großes Interesse an dem Projekt zeigt, zumal K. Wagner Regie führen würde. Transopera SRL kreiert für das Projekt nun den Titel „ColónRing“, entwickelt hierfür ein angepasstes Konzept und vermittelt jeweils einen Vertrag zwischen K. Wagner und dem Teatro Colón für die Regie und künstlerische Gesamtleitung, sowie zwischen C. Garben und dem Teatro Colón für die Bearbeitung. Ab April 2011 arbeitet C. Garben an den Klavierauszügen und der Partitur des ColónRing, während Transopera SRL alle Aktivitäten zur Vorbereitung des Projekts mit internationaler Besetzung auf Vorgaben von K. Wagner wahrnimmt.
Büste v. R. Wagner im Hauptfoyer
Am 9. Mai 2011 findet im Konzerthaus Berlin eine von Transopera SRL organisierte Pressekonferenz mit C. Garben, K. Wagner, G. Caffi statt. Der ColónRing wird vor 50 Journalisten vorgestellt und von Transopera SRL dazu eine Homepage etabliert: www.Transopera.net.
Die Regisseurin gibt anlässlich der Pressekonferenz ein Interview zum Projekt, zu sehen unter:
http://www.vioworld.de/blog/2011/05/vioworld-trifft-katharina-wagner/#more-3823
Darin stellt sie u.a. fest, dass sie seriöserweise nicht mehr als eine Regie im Jahr machen kann aufgrund ihrer Verpflichtungen mit der Festspielleitung, denn beide Aufgaben seien seriös zu erfüllen. Auf Bitte von K. Wagner nimmt C. Garben einige Änderungen am Ablauf der „Walküre“ im Notenmaterial vor. „Das Rheingold“ wird als rückblickende Erzählung in den 2. Aufzug der „Walküre“ verlegt, was bereits auf der Pressekonferenz bekannt wurde. „Die Walküre“ – und damit der ColónRing an sich – beginnt mit dem Fricka-Wotan Dialog des 2. Aufzugs.
Daraufhin wird eine weitere Pressekonferenz in Buenos Aires für den 29. September 2011 vereinbart, mit K. Wagner und C. Garben. Im Laufe des September zeichnen sich Probleme mit der Einhaltung dieses Termins durch K. Wagner ab, während C. Garben und die Manager von Transopera SRL termingerecht in Buenos Aires eintreffen. Am 29. September sagt K. Wagner die Reise nach Buenos Aires definitiv ab, wie der Autor in Buenos Aires direkt vom Pressechef des Teatro Colón erfährt, denn er ist anlässlich einer Rezension des neuen „Lohengrin“ am Colón für mehrere europäische Medien auch zu dieser Pressekonferenz eingeladen. Der Pressechef bedauert, dass etwa 40 Journalisten in der Stadt sind, um über diese Pressekonferenz zu berichten. Zeitweise wird überlegt und dem Teatro Colón auch empfohlen, Bernd Weikl die Regie zu übertragen, der dazu wohl bereit war.
Die gekürzte Fassung des „Ring“ erlebt mit der Absage des Projekts durch den Generaldirektor des Teatro Colón aufgrund der geplatzten Pressekonferenz nach China nun seine zweite Absage. Es gelingt jedoch C. Garben, ihn von einer Fortführung des Projekts zu überzeugen, woraufhin er mit Katharina Wagner in Deutschland einen neuen Termin für die Pressekonferenz vereinbart. Diese findet am 9. November 2011 in Buenos Aires statt inkl. eines Treffens in der Deutschen Botschaft mit potenziellen Sponsoren. Daraufhin wird die deutsche Botschaft in Buenos Aires auch institutioneller Sponsor des ColónRing. Details über diese Pressekonferenz sind aus einem Bericht des Autors im Wiener Neuen Merker online und unter:
http://www.transopera.net/pages/aktuelle-presseberichte/der-neue-merker-ueber-die-pressekonferenz-in-buenos-aires-vom-12.11.2011.php
zu entnehmen. Des weiteren plant zu dem Zeitpunkt die Deutsche Welle, die auch an der Pressekonferenz in Berlin teilnahm, als Koproduktion mit einem beauftragten Produzenten eine Dokumentation von 90 Minuten und eine Livestream-Übertragung in voller Länge am 27. November 2012 aus dem Teatro Colón.
Großes Pausenfoyer
Am 16. Oktober trifft Katharina Wagner in Buenos Aires zum Probenbeginn des ColónRing ein, reist aber noch am selben Tag wieder ab, da nach ihrer Ansicht die notwendigen Bedingungen für die Proben nicht gegeben sind, wie Bühnenbild, Kostüme, Perücken und weil auch nicht alle Sänger anwesend sind. Mangelnde Probenvorbereitungen, die zu diesem Zeitpunkt deren Beginn verzögert oder gar unmöglich gemacht hätten, werden vom Teatro Colón allerdings heftig bestritten. Hier wurde sicher die für Europäer nicht immer sofort vorstellbare und oft überraschende Improvisationskunst südamerikanischer Operntheater unterschätzt.
Ebenfalls am 16. Oktober wird auf der Website des deutschen Autoherstellers Audi bekannt, siehe
http://www.audi.de/de/brand/de/unternehmen/aktuelles.detail.2012~10~jubilaeums-festakt.html,
dass K. Wagner zu „50 Jahre Kultur bei Audi“ am 11. November einen Jubiläums-Festakt im Presswerk der Audi-Fertigung in Ingolstadt inszenieren wird, also mitten in den am 16. Oktober beginnenden Proben zum ColónRing in Buenos Aires und somit knapp zwei Wochen vor dessen Generalprobe. Audi ist Sponsor der Bayreuther Festspiele. Sie zeigt sich begeistert von diesem Auftrag: „Als Audi mich bat, ein Jubiläumsprogramm zu inszenieren, habe ich keine Sekunde gezögert. Denn selten genug hat man die Gelegenheit, mit Künstlern aus allen Bereichen in solch ungewöhnlicher Umgebung zu arbeiten“. Näheres ist zu lesen in einem Interview mit K. Wagner dazu am 7. November unter
http://blog.audi.de/2012/11/07/katharina-wagner-uber-kultur-im-presswerk/.
Großes Pausenfoyer
Man sollte angesichts dieser zwei parallel laufenden Regie-Arbeiten an weit entfernten Orten der Erde bedenken, dass eine Reise von Deutschland nach Buenos Aires mindestens einen vollen Arbeitstag in Anspruch nimmt. Ferner ist am 8. November eine Ehrung des Freistaates Bayern mit dem vom Energieversorger Eon Bayern finanzierten Bayerischen Kulturpreis für die beiden Festspielleiterinnen geplant, dotiert mit €10.000. Beide Events fanden mittlerweile planmäßig statt.
Bald darauf und abschließend im Rahmen einer weiteren Reise K. Wagners am 25. Oktober nach Buenos Aires kommt es zur Vertragsauflösung mit dem Teatro Colón in beiderseitigem Einvernehmen unter Beisein der Anwälte beider Seiten. Dazu ist mehr zu lesen in den folgenden Artikeln von BR Klassik
http://www.br.de/radio/br-klassik/sendungen/allegro/katharina-wagner-theatro-colon-vertrag-geplatzt-100.html
und ZEIT-online
http://www.zeit.de/kultur/musik/2012-10/wagner-ring-argentinien.
Schlussapplaus 1. Reprise Paternostro und Watson
Nach K. Wagners Abreise am 16. Oktober beauftragt das Teatro Colón umgehend Valentina Carrasco, eine Mitarbeiterin der bekannten katalanischen Theatertruppe La Fura dels Baus, mit der Regie des ColónRing. La Fura dels Baus haben schon in der Vergangenheit exzellente Arbeiten zu Wagner vorgelegt, u.a. den „Ring“ 2009 in Valencia sowie „Tristan und Isolde“ 2011 in Lyon und auch auf einer Biennale in São Paulo Performances gemacht. Carrasco hat auch mit Erfolg in diesem Jahr „Le Grand Macabre“ von G. Ligeti am Teatro Colón inszeniert. Roberto Paternostro wird nach J. Salemkour die musikalische Leitung haben. Die bisher fertig gestellten Bühnenbilder und Ausstattungsteile von Frank Philipp Schlößmann werden vom neuen Bühnenbilder Carlos Berga zum großen Teil weiterverwendet. Nidia Tusal ist für die Kostüme und Peter van Praet für das Licht zuständig. C. Garben wird auf Initiative der neuen Regisseurin gebeten, die Bearbeitung der Tetralogie wieder chronologisch erfolgen zu lassen und stimmt dieser Bitte zu. Damit beginnt der ColónRing nun nicht mehr, wie von K. Wagner und C. Garben vorgesehen, mit dem 2. Aufzug der „Walküre“ und dem darin in den Wotan-Monolog eingebauten „Rheingold“ in Form einer Erzählung. „Das Rheingold“ wird nunmehr als erstes Stück – gekürzt – vor die „Walküre“ gestellt und damit die vom Komponisten festgelegte Chronologie der vier Einzelwerke – mit allgemein großer Zustimmung – wieder respektiert. Die Proben laufen nun gut, und der Premierentermin am 27. November ist gesichert.
Wagners opus summum hat sich also am Ende trotz des abrupten Regiewechsels in praktisch letzter Minute und diverser Ungereimtheiten durchgesetzt. Und dabei hätte der ColónRing eigentlich ein China Ring sein sollen. Interessant wäre die Antwort auf die Frage, wie er sich entwickelt hätte, wenn die pflichtbewussten Chinesen nicht in Bayreuth um eine offizielle Zustimmung zu ihrem Projekt nachgesucht hätten… Mittlerweile hat sich aber auch mit China etwas getan. Es ist geplant, den ColónRing, dann aber aufgeteilt auf zwei Abende, d.h. „Das Rheingold“ und „Die Walküre“ am ersten, sowie „Siegfried“ und „Götterdämmerung“ am zweiten Abend, jeweils entsprechend gekürzt, im August/September 2013 in Tianjin aufzuführen, einer Stadt südöstlich von Peking mit etwa sechs Millionen Einwohnern. Die musikalische Leitung wird der neue Künstlerische Direktor und Chefdirigent Muhai Tang haben. Die ersten Gespräche fanden bereits statt.
Fotos: Klaus Billand
Klaus Billand