Oswald Panagl: „Im Zeichen der Moderne – Musiktheater zwischen Fin de Siècle und Avantgarde“ - März 2021
Ein spannendes Nachschlagewerk
Das Buch
Unter den Freunden und Kennern des Musiktheaters sowie in den Zirkeln der Musik- und Sprachwissenschaft ist der Österreicher Oswald Panagl, Jahrgang 1939, großer Opernfreund mit abgeschlossener Gesangsausbildung und Linguist, seit Jahrzehnten eine sichere Adresse für ultimative Kenntnis, Erkenntnis und profunde Einsichten. Ebenso lange sind seine Essays und phantasievollen Beiträge zu den Programmheften einer großen Zahl von Opernhäusern sowie bedeutender Festspiele beliebt – bekannt und Klarheit schaffend, und das immer in einer verständlichen und von subtilem Humor geprägten Sprache. Als emeritierter O. Univ. – Professor für allgemeine und vergleichende Sprachwissenschaft an der Universität Salzburg sowie ständiger Gastdozent an der Universität Mozarteum ist Panagl neben seiner Essayisten- und Dramaturgen-Tätigkeit Präsident der Internationalen Richard-Strauss-Gesellschaft und gehört der Öst. Akademie der Wissenschaften als korrespondierendes Mitglied an. Er blickt auf einen umfangreichen Schatz von Monografien und Essays zurück.
Diejenigen seiner Essays, die sich mit der jüngeren Geschichte des Musiktheaters befassen, hat er auf beharrlichen Rat von guten Freunden zu einem hochinteressanten Kompendium zusammengestellt und in ebenso relevante wie aufhellende musikgeschichtliche Zusammenhänge gebracht. Er wollte sich mit einer „Epoche der neu(er)en Musik mit ihren Strömungen, nationalen Varietäten und wichtigen Repräsentanten der einzelnen Sektoren und Stilrichtungen“ befassen, wobei die Anordnung eher dem Modell eines Fächers als einer Linearität folgt. Er geht dabei von einer ‚langen‘ ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts aus, die von einem großzügig definierten Fin de Siècle bis zur Avantgarde der frühen 1950er Jahre reicht.
Zunächst befasst sich Panagl ausgiebig mit der Definitionsproblematik dessen, was man unter ‚Moderne‘ verstehen kann. Von einfachen Termini wie neu, unverhofft, jüngst erst eingetreten, über heutig, zeitgemäß, der neuesten Mode entsprechend und Begriffe mit neuer Referenz und ‚moderner‘ Konnotation wie Renaissance oder Impressionismus sowie der Moderne als programmatischem Entwurf stößt der Autor schließlich auf die Erkenntnis, dass ultimative Klarheit unmöglich ist. So möge man sich mit dem Schlusssatz eines bekannten Vortrags von Jürgen Habermas begnügen: „Die Moderne – ein unvollendetes Projekt.“
Über interessante terminologische und semantische Überlegungen zur ‚Literaturoper‘ warnt Panagl vor voreiliger nicht überprüfbarer Zuordnung und empfiehlt ein „Inventar distinktiver Merkmale“, die eine Unterscheidung zwischen prototypischen, vorrangigen und gemischten Varianten der Literaturoper ermöglichen. Zum wichtigen Thema „Traum in der Oper“ stellt er mit Werken von Debussy, Korngold und Martinū ein kunstkritisches Szenario der Jahrhundertwende vor, das sich im Bestreben, den Naturalismus zu überwinden, den Themen Symbolismus, Dekadenz, Nervenkunst, Traum und Wirklichkeit widmet – eine für jene Zeit bedeutsame Tendenz im ‚modernen‘ Musiktheater. Auf der Suche nach einer griffigen Formel für diese disparaten Momente kommt der Autor auf einen Dramentitel aus dem 19. Jahrhundert „Der Traum ein Leben“. Und genau mit diesem Titel hat Walter Braunfels eine Oper komponiert.
Oswald Panagl
Panagl beginnt den zentralen Block mit Werken deutsch(sprachig)er Tondichter allerdings mit Giacomo Puccini, einem Italiener also, der wegen des innovativen Moments seiner Opern sogar von Komponisten wie Lachenmann oder Trojahn geschätzt wird. „La bohème“ ist mittleerweile vom „Leitfossil des Nachmittagsabonnements“ zu einer Herausforderung für Regisseure geworden. Mit ihren männlichen Protagonisten charakterisiert Puccini die vier Temperamente, i.e. der Sanguiniker Schaunard, der Melancholiker Rudolf, der Choleriker Marcel und der Phlegmatiker Collin, der weise Philosoph. „Tosca“ liegt für Oswald Panagl im Spannungsfeld musikdramatischer Gattungen, und in „Turandot“ sieht er eine neues Verhältnis der zwei Säulen der conditio humana: Der emotionale Weg von erlittenem Tod führt zu neu erwachter Liebe! Für den ohnehin von Natur aus Beweger und Getriebenen, Avantgardisten und Epigonen, Phantasten und Räsoneur Ferruccio Busoni war das realistische Theater mit seinen handfesten Illusionen ein ästhetisches Ärgernis. Er gab in seinem „Doktor Faust“ entsprechende Antworten.
Es wäre nicht Oswald Panagl, wenn der Richard Strauss-Teil nicht der größte wäre, mit 100 Seiten! Er allein rechtfertigte eine eigene Besprechung. Natürlich geht er auf das Geheimnis der Liebe und des Todes in „Salome“ als eines weiteren Beispiels der Décadence um die Jahrhundertwende ein. Die ‚Modernität‘ der Musiksprache der „Elektra“ zeichnet sich durch ‚psychische Polyphonie‘ aus und entspricht dem ‚Nervencontrapunkt‘ (R. Strauss) der „Salome“. Auch wenn Grenzen der Atonalität gestreift werden, überschreitet Strauss diese ominöse Schwelle nie. In „Ariadne auf Naxos“ erscheinen Panagl die scheinbar so gegensätzlichen Ariadne und Zerbinetta als in Wahrheit unterschiedliche Facetten des weiblichen Wesens („Zerbiadne“ bzw. „Arietta“), damit in eine neue Wahrnehmungsrichtung weisend. Die so ungewöhnlich blockhaft zusammengesetzte Oper sei dennoch ein ästhetisch gelungenes Ganzes, das quasi ein neues Genre ergibt! Bei der „Ägyptischen Helena“ fragt er, ob es sich um ein „unterschätztes Meisterwerk“ oder ein „missratenes Sorgenkind“ handele und geht dabei aufschlussreich auf die „asymmetrische Beziehung“ zwischen Hofmannsthal und Strauss anhand eines Briefwechsels ein. Im „Rosenkavalier“ stehen für Panagl Beziehungsmuster und Sprachspiele im Gesamtkunstwerk im Vordergrund. Zu „Intermezzo“, bei dem die Liebe zur Autobiographie überwiegt, stellt er die Frage, ob das Werk ein „Nachfahre bürgerlicher Musikkultur“ oder „Vorhut der Avantgarde“ sei. Bei „Arabella“ ist zu fragen, ob es ein ‚Sklerosenkavalier‘ oder szenische Realutopie ist, jedenfalls bleibe „Arabella“ ein künstlerisches Angebot von Hofmannsthal und Strauss in turbulenter und fragwürdiger Zeit. Mit dem Titel „La Roche und die Welt als Wille zur Vorstellung“ trifft Panagl bei „Capriccio“ sicher ins Schwarze.
In Hans Pfitzner sieht Panagl einen spätromantischen Grübler, einen „Unzeitgemäßen an der Epochenschwelle“, was auch in der Rolle des Palestrina in der gleichnamigen Oper zum Ausdruck kommt. Auch bei Pfitzner ist der Traum ein zentrales Element seines Oeuvres. Dazu passt auch sein Misserfolg bei den damaligen neuen Machthabern trotz Bemühens um ihre Gunst.
Zum Gegensatz von Tradition und Avantgarde geht Panagl auf Kunst und Kolportage sowie Liebe und Tod im musikalischen Jugendstil in musikalischen Tragödien aus der italienischen Renaissance ein. Interessante Analysen des Werkes von Franz Schreker, Paul Hindemith, Erich Wolfgang Korngold, Ernst Krenek und Viktor Ullmann folgen.
In einem großen „erratischen Block“ aus Mähren zu Leoš Janáček sieht der Autor besonders auf „Menschliches, Allzumenschliches“ und die großen Frauenrollen, die das Oeuvre dieses Komponisten kennzeichnen, sowie auf den für ihn so typischen Sprachmelos und die daraus folgenden Sprachmelodien.
Panagl hat auch Interessantes zu sagen zum modernen Musiktheater aus ‚Ost-Europa‘ und zum literarischen Symbolismus sowie der impressionistischen Tonsprache von Claude Debussy. Kurt Weill und Benjamin Britten folgen mit einer Analyse zum „Lied der Straße und den Farben des Meeres“ als imaginäre Orte und zeitkritische Chiffre. Einige musikästhetische Fallstudien runden das umfangreiche Werk mit Carl Nielsen, Arnold Schönberg, Alban Berg, Alexander Zemlinsky, Eduard Künneke und einigen Gedanken zur US-amerikanischen Musik des 20. Jahrhunderts ab.
Das Riesenwerk von Oswald Panagl trägt nicht nur auch autobiografische Züge, sondern ist ein kaum enden wollender Fundus an ständig neuen und interessanten Fakten, historischen Zusammenhängen und Einsichten zu Opern, die man schon gut zu kennen glaubte und die einem hier noch einmal mit einem sympathischen Grundton mit neuen Facetten nähergebracht werden. Gleichzeitig ist Oswald Panagls Buch ein großes Nachschlagewerk zu einer bis in die heutige Zeit des Musiktheaters hineinreichenden Epoche.
Fotos: Hollitzer-Verlag 1; Peter Branner 2
Klaus Billand
Oswald Panagl: „Im Zeichen der Moderne – Musiktheater zwischen Fin de Siècle und Avantgarde“, 422 S., Hollitzer-Verlag, Wien 2020; ISBN 978-3-99012-902-9