Wien/Staatsoper: Simon Boccanegra - 12. September 2020

Musiktheater der Konvention – noch zukunftsfähig?!

Günther Groissböck als Fiesco

Günther Groissböck als Fiesco

Von Altmeister der Regie Hans Neuenfels konnte man am Vormittag nach dem „Simon Boccanegra“ im Marmorsaal im Gespräch mit Sergio Morabito ein äußerst interessantes Regieporträt erleben und von ihm unter anderem Ausführungen darüber hören, wie ein Sänger auf seinen stimmlichen Einsatz in einer Regietheater-Produktion vorbereitet wird, also in einer Inszenierung, in der der theatralische Interpretation durch ein bestimmtes Regiekonzept die Hauptrolle zukommt – ob man das nun will oder nicht. (Besser, beziehungsweise ideal wäre natürlich, wenn auch ein solchermaßen akzentuiertes Regiekonzept im Einklang mit der Musik und den stimmlichen Leistungen steht, etwa im Sinne des Gesamtkunstwerk-Gedankens von Richard Wagner). Der Regisseur des Wiener „Boccanegra“, Peter Stein, hat zur Mimik und Gestik von Sängern aber ein ganz gegensätzliches Verständnis, wie man aus einem Interview, das einst Peter Blaha mit ihm zur Inszenierung führte, im interessanten neuen Programmheft lesen kann. Für Stein transportieren Konventionen, „ganz anders als das immer verteufelt wird“ durchaus etwas. „In die Konventionen sind ganz bestimmte künstlerische Wahrheiten eingegangen, wenn auch in verfestigter, versteinerter oder verknöcherter Form.“ Stein überprüft ihre Nutzbarkeit und bezeichnet sich selbst ganz bewusst als „konventionellen Regisseur“. Was man an diesem Repertoire-Abend aber an Konventionalität in Bewegung und Mimik erlebte, kann sicher nicht das gewesen sein, was selbst Peter Stein im Sinn hatte. Stereotype Bewegungsmuster und immer wieder nachhaltiges Rampenstehen ohne jeden Blickkontakt zueinander und Ähnliches mehr wirkten zumindest auf mich auch für dieses anspruchsvolle und durchaus auch etwas statische Werk Giuseppe Verdis kaum noch erträglich. Für das schlichte Bühnenbild war Stefan Mayer verantwortlich, und die Kostüme schuf Modele Bickel.

Das Finale

Das Finale

Aber darum ging es ja auch gar nicht, denn es sollte werden und wurde es dann auch: der Abend des Placido Domingo in der Rolle des Dogen von Genua! Und obwohl der großartige Günther Groissböck in seiner neuen Rolle als Fiesco für nicht nur stimmliche, sondern auch darstellerische Höhepunkte und in der finalen Aussprache mit dem vergifteten Dogen für einen der Höhepunkte des Abends sorgte, war Placido Domingo dessen Kraftakt, und zwar nicht nur mit seiner wohl unübertrefflichen schauspielerischen Charakterisierung des Dogen, sondern auch mit einem immer noch tragkräftigen Bariton, der mit seinem unvergleichlichen Domingo-Timbre immer, wenn es ihm noch möglich ist, auch mal kurz in abgedunkelte tenorale Höhen aufsteigt. Die Inkarnation des Dogen in der Senatsszene, seine Mimik, und dann der wuterfüllte Ausbruch nach der Suche des Verräters – das alles sind Momente von musiktheatralischer Größe, die man nicht vergessen kann. Aber auch im sensibelsten menschlichen Erleben, der Wiedererkennung seiner Tochter Amelia, findet Domingo zu emotionalem Tiefgang sowohl stimmlicher wie gestalterischer Intensität. Das finale „Figlia“ dieser Szene war berührend ebenso wie seine Reaktion auf die Vergiftung an Authenzität nichts zu wünschen übrig ließ und auch seine Sterbeszene dem Abend einen atemstockenden Schlusspunkt setzte.

Placido Domingo beim Schlussapplaus

Placido Domingo beim Schlussapplaus

Wie schade, dass einige der anderen auf diesem schauspielerischen Niveau nicht mithalten konnten, vor allem Hibla Gerzmava als Amelia. Sie hat, ja, schon an fast allen großen Häusern gesungen, also Met, Royal Opera House Covent Garden, Paris Bastille, Bolschoi Moskau, Wien, Dresden und München und hat auch eine schöne volle Mittellage. Wenn aber die Rolle dramatischen Aplomb verlangte, war es mit der Stimmfülle schnell zu Ende, und die Höhen bekamen ein störendes schnelles Vibrato. Was für mich aber noch mehr wog, war die nahezu völlige Abwesenheit jeglicher Emphase in der Interpretation ihrer Rolle. Stereotype Gestik, fast immer derselbe Gesichtsausdruck – selbst manche Vorsingen geraten aufregender – waren bei ihr leider eher die Regel. Hätte Gerzmava den Kopf nur einmal etwas nach rechts zu ihrem sie erkennenden „Vater“ Domingo gewandt, aber selbst noch in der Todesszene, wäre ihr klar geworden, was ausdrucksvolle und situationsgerechte Mimik sein kann und bedeutet. So kann die Steinsche Überzeugung konventioneller Aktion dann wohl doch nicht zu verstehen sein. Es wäre Musiktheater von gestern, wenn nicht von vorgestern. Beim Schlussapplaus kam Gerzmava dann doch mehr aus sich heraus und wirkte richtig sympathisch.

Der usbekische Tenor Najmiddin Mavlyanov bemühte sich wesentlich besser, die Rolle des Gabriele Adorno auch mit Leben zu füllen. Seinem Timbre fehlt es etwas an Brillanz und sprachlicher Klarheit. Bei den Höhen wurde es auch schonmal etwas eng. Insgesamt konnte er aber überzeugen. Attila Mokus gab den noch recht jung wirkenden Paolo mit stimmlicher Prägnanz, wenn auch nicht mit großer Klangfülle. Darstellerich aber wirkte er sehr authentisch. Dan Paul Dumitrescu gab einen soliden Pietro, und die einspringende Patricia Nolz ließ eine schöne Stimme als Amelias Dienerin hören. Carlos Osuna war der Hauptmann.

Evelino Pidò dirigierte das Orchester der Wiener Staatsoper beherzt, mit viel Verve und Liebe zum Detail, sodass von der orchestralen Seite her der Abend das einlöste, was er versprach, insbesondere in den Piano-Stellen, wo auch Chor und Extrachor der Wiener Staatsoper, von Martin Schebesta einstudiert, durch stimmlichen Facettenreichtum – man denke nur an die Sterbeszene – beeindruckte. So war diese Wiederaufnahme der alten und in der Tat oft auch alt wirkenden Stein-Produktion von „Simon Boccanegra“ wegen Placido Domingo, der Entdeckung Günther Groissböcks in einer neuen Rolle und den Wienern mit dem Chor dann doch noch ein guter Abend.

Fotos: Wiener Staatsoper/Michael Pöhn 1-2; George Fritthum 3

Klaus Billand

Giuseppe Verdi

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