EKATERINBURG/Russland: „Die Passagierin – Russische EA am 15. September 2016

Beklemmende Einsichten in das KZ Auschwitz

Aufseherin Lisa und Passagierin Martha

Aufseherin Lisa und Passagierin Martha

Im Ekaterinburg Akademischen Opern- und Ballett Theater (kurz Uraloper) fand ein im Musikleben Russlands überaus bemerkenswertes internationales und groß angelegtes Musiktheaterprojekt mit der Premiere der Oper des polnisch-russischen Komponisten Mieczyslaw Weinbergs, „Die Passagierin“, statt. Es ist die russische Erstaufführung in szenischer Wiedergabe, nachdem das Werk in einer semikonzertanten Darbietung zum ersten Mal 2006 in Moskau zu hören war. Nach einer erfolgreichen Inszenierung von „Satyagraha“ von Philipp Glass mit über 20 ausverkauften Vorstellungen in der Uraloper vor zwei Jahren wies der Herausgeber der Nationalen Zeitung „Musical Review“ und Projektleiter der „Passagierin“, Andrey Ustinov, den Generalintendanten der Uraloper, Andrey Shishkin, auf Weinbergs Oper hin. Ustinov war äußerst interessiert an der Produktion des Werkes auf einer russischen Bühne. Im Frühjahr 2015 fällte Shishkin zusammen mit dem Generalmusikdirektor Oliver von Dohnányi, der von der deutschen Erstaufführung der „Passagierin“ am Badischen Staatstheater Karlsruhe sehr beeindruckt war, die Entscheidung, das Werk im September 2016 mit vier Premieren in vier Tagen (!) aufzuführen und damit die unkonventionelle Programmpolitik des Hauses fortzusetzten. Die Internationalität des Projekts entstand durch eine Kooperation mit dem Adam Mickiewicz Institut in Warschau, dem führenden Kulturinstitut Polens. Um das Publikum von Ekaterinburg auf das inhaltlich und musikalisch komplexe Werk vorzubereiten, organisierte die Uraloper eine Reihe von Events, unter anderem einen „Musikalischen Dialog“, eine Ausstellung, die Aufführung der Weinberg-Symphonie „Die Blumen von Polen“, und die 13. Symphonie von Weinbergs langjährigem Freund, Dmitri Schostakowitsch. Dieser setzte sich 1953 auf für ihn riskante aber erfolglose Weise für seinen Freund ein, als dieser schuldlos unter schlimmsten Bedingungen in einem Moskauer Gefängnis saß. Durch ihre enge Beziehung weist die Musik Weinbergs viele Elemente von jener Schostakowitschs auf, hat aber ihren ganz individuellen Stil. Schließlich wurde im April noch eine Bühnenversion des Hörspiels der 1923 geborenen polnischen Kulturredakteurin und Autorin Zofia Posmysz, „Die Passagierin von Kabine 45“ auf Russisch an der Uraloper aufgeführt.

Posmysz, die wie durch ein Wunder mit Ausschwitz und Ravensbrück zwei Konzentrationslager überlebte, schuf mit ihrem autobiografischen Roman „Die Passagierin“ die Vorlage für die Oper von Weinberg, die er als seine erste Oper von insgesamt fünf von 1967-68 komponierte. Weinberg, der schon mit jungen Jahren großes Talent für das Klavierspielen zeigte und später ein guter Pianist wurde, floh bei Kriegsbeginn 1939 von Warschau in die Sowjetunion. Er kam zunächst nach Minsk, wo er Komposition am Minsker Konservatorium studierte. Auf Einladung Dmitri Schostakowitschs gelangte er 1943 nach Moskau, wo er seither lebte und in den 1960er Jahren große Reputation in der Sowjetunion erzielte. Er selbst nannte jene Zeit seine „stellaren Jahre“. Es war Dmitri Schostakowitsch, dem der Roman von Zofia Posmysz auffiel und der das Thema geeignet für eine Oper fand. Er zeigte ihn seinem Freund, dem Musikwissenschaftler Alexander Medvedev, und machte diesen wiederum mit Weinberg bekannt. Medvedev wurde so der Librettist der „Passagierin“. Leider blieb es ihm verwehrt, die szenische Uraufführung im Jahre 2010 in der Regie von David Pountney bei den Bregenzer Festspielen zu erleben. Er verstarb kurz zuvor. Danach war „Die Passagierin“ an einer Reihe von Opern zu sehen: 2010 in Warschau, 2011 an der English National Opera ENO (auf Englisch) und 2012 in Madrid, alle drei in Koproduktion mit Bregenz; 2013 mit der erwähnten deutschen EA in Karlsruhe, 2014 in Houston und am Lincoln Center in New York sowie konzertant in Perm am Ural, und 2015 schließlich an der Lyric Opera von Chicago sowie an der Oper Frankfurt am Main, die damit bei den diesjährigen Wiener Festwochen im Theater an der Wien gastierte.

Es handelt sich um die Geschichte zweier Frauen, Lisa Kretschmar geb. Franz, die gerade verheiratet mit ihrem Ehemann Walter, zur Aufnahme seiner Botschaftertätigkeit auf einer Überfahrt nach Brasilien ist und 15 Jahre zuvor SS-Aufseherin im KZ Auschwitz war, sowie Martha, einer ehemaligen KZ-Insassin in Auschwitz, die zufällig auf demselben Dampfer reist. Bei der Begegnung der beiden Frauen wird Lisa klar, dass es sich um die tot geglaubte ehemalige Gefangene handelt, eben die „Passagierin“, was sie in größte Gewissensnöte bringt und veranlasst, ihren Ehemann über ihre damalige Rolle aufzuklären. Dieser indessen fürchtet um seine Karrierechancen. In der Folge erleben wir die Rolle von Lisa Franz im KZ Auschwitz in Form einer für sie emotional schmerzvollen Rückschau während der Atlantik-Überfahrt. Nadezhda Babintseva spielt Lisa mit großer Intensität sowohl auf dem Schiff wie als SS-Aufseherin und singt sie mit einem klangvollen und sowohl in der Tiefe wie in den tadellosen Höhen bestens geführten Mezzo. Vladimir Cheberyak gibt den Walter mit einem kräftigen Tenor und überzeugt auch darstellerisch im Zusammenspiel mit Lisa. Die Polin Martha wird von Natalia Karlova mit einem ausdrucksstarken Sopran verkörpert und gestaltet in Auschwitz ein emotional einnehmendes Rollenporträt.

Die Frauenbaracke - Appell

Die Frauenbaracke - Appell

Die Uraloper engagierte nach seiner überzeugenden Regie von „Satyagraha“ von Philip Glass wieder den US-amerikanischen Regisseur Thaddeus Strassberger, der dafür den Kritikerpreis für die russische Premiere sowie 2016 die Goldene Maske erhielt und unter vielen anderen auch schon im Theater an der Wien inszenierte. Er zeichnete für Regie, Bühnenbild und Beleuchtung verantwortlich. Kostümbildnerin war Vita Tsykun, und Angelica Grozina leitete die stimmkräftigen und exzellent choreografierten Chöre. Für Strassberger stand über allem der Begriff „Never“, und es war ihm, wie man an diesem Abend nachhaltig erleben konnte, äußerst ernst damit, dieses Postulat herauszuarbeiten, dass so etwas wie im KZ Auschwitz nie wieder passieren dürfe. Dabei sieht Strassberger das Werk gar nicht als eine Oper im eigentlichen Sinn des Begriffs. Er möchte mit seiner Regie einen aktiven Dialog mit dem Publikum initiieren, der nicht mit dem Schlussbild endet, sondern weit darüber hinaus geht. Es soll lebhaftes zeitgenössisches Musiktheater von großer Durchschlagskraft in der Aussage sein und niemanden unberührt lassen, vielmehr zum Nachdenken auffordern, ja innerlich aufrütteln. Die Uraloper hat ihm die hierzu erforderlichen Bedingungen gewährt, und er hat sie bis zum Äußersten genutzt.

Anders als bei bisherigen Inszenierungen spielt man in Ekaterinburg zum ersten Mal die russische Originalfassung. Es wird ein Abend aufwühlenden und oft schockierenden Musiktheaters in des Wortes bester Bedeutung, das im unter die Haut geht. Strassberger dokumentiert auf eindrückliche Weise, wie er treffend Emotionen schüren und eindrucksvoll sowie schlüssig darstellen kann. Er entwickelt dazu eine exzellente Personenregie, die in keinem Augenblick Langeweile aufkommen lässt oder irgendwelchen Opernklischees verfällt. Der Regisseur vermag die Psyche und Emotionen der Personen tief auszuloten und das Drama aus ihnen heraus zu gestalten. Optik und Dramaturgie befinden sich dabei stets in bestem Einklang mit der komplexen Musik Weinbergs, die zwischen großer Dramatik mit expressiver Ausdruckskraft und einem lyrischen Duktus sowie Tanzrhythmen und Elementen der Volksmusik changiert, ganz wie es die jeweilige Situation erfordert. Vielfach ist die Musik auch narrativ und erzeugt des Öfteren ein kammermusikalisches Klangbild. Zu dieser Regie passen die Kostüme von Vita Tsykun in einzigartiger Weise, denn sie sieht sich nicht als typische Kostümbildnerin, sondern als eine Künstlerin, die durch das Kostüm der jeweiligen Figur eine ganz spezielle Individualität verleiht. Die Kostüme auf dem Schiff sind den späten 1950er Jahren entlehnt. Die KZ-Insassen erscheinen in der gestreiften Häftlingskleidung. So wurden für die drei Besetzungen, über die die Uraloper unglaublicherweise verfügt, über 150 Kostüme gefertigt, jedes individuell und unverwechselbar mit anderen. Besonders bei den Insassinnen des Frauenlagers wird diese Individualität deutlich und führte auch dazu, dass sich gemäß Tsykuns Absicht die Sängerinnen authentischer in ihre Rollen einfinden konnten.

Nachdem die ersten aufwühlenden Takte der Trommeln und Pauken verklungen sind und sich der Vorhang hebt, sehen wir die Außenfront des Promenadendecks eines Ozeandampfers, aus dessen Fenstern die Passagiere auf die See hinaus blicken und wenig später Lisa und Walter über ihren Abschied aus Europa und die Erwartung des neuen Lebens sinnieren. Schon hier wird deutlich, dass beide den Krieg verdrängen und am liebsten tanzen gehen… Mit einer großen Steigerung in der Musik wird Lisas innerer Aufruhr und der Beginn ihres Verdrängens dokumentiert, als sie in der langsam vorbei schreitenden Passagierin die totgeglaubte Martha zu erkennen wähnt. In ihrer mondänen Kabine kommt sodann eine Auseinandersetzung mit Walter zustande, die Strassberger zu der Lisas innere Zerrissenheit erklingenden Musik mit großem psychologischem Tiefgang inszeniert. Dabei schreitet eine Gruppe jüdischer Flüchtlinge mit ihren Koffern über die Bühne und schafft die entsprechende Assoziation zu Lisas Gedanken. Stets achtet der Regisseur in solchen Momenten auf größtmögliche Harmonie mit Weinbergs Musik, die Oliver von Dohnányi mit viel Gefühl für das Geschehen auf der Bühne, einem intensiven Kontakt zu den Sängern und mit großer Liebe zum Detail dirigiert. Das Orchester scheint dabei von der Intensität des Stückes eingenommen zu sein, mit so viel Verve und Herz wird hier musiziert.

Strassberger, der auch persönlich in Auschwitz war und Zofia Posmysz in Warschau traf, entschied sich für ein Bühnenbild, das die zwei Ebenen auf dem Schiff und in Auschwitz nicht durchweg klar voneinander trennt, sondern mit fliegenden Wechseln der Szenerie bisweilen eine Vermischung beider Spielebenen zulässt, ganz so wie sie sich im Kopf Lisas auf dem Schiff abspielt. Die Szenen des Frauenlagers lassen dabei an schockierenden Bildern des Grauens nichts zu „wünschen“ übrig. Man sieht, wie sich im 2. Bild des 1. Aktes nach dem Sinnieren der drei SS-Offiziere (stimmlich einwandfrei Aleksei Semenishchev, Vladislav Troshin, Kirill Matveev) über ihre „langweiligen“ Aufgaben in Auschwitz drei Wände zu Schlafkojen im Frauenlager verwandeln und die ganze Misere ihres Fristens im Lager zeigen. Die verschiedenen Szenen in der Baracke des Frauenlagers gehören zu den stärksten der Inszenierung, auch deshalb, weil neben dramatischen Momenten der Verzweiflung hier zu den melancholischen Soli und Dialogen der Frauen viel Lyrik in der Musik erklingt. Diese wird stets jäh durch ein musikalisches Aufbäumen unter starkem Einsatz des Schlagwerks unterbrochen, wenn die Nazi-Schergen in die Baracke eindringen und ihre Gräueltaten unter den Frauen verrichten. Auch mit den Auftritten der Aufseherin Lisa Franz kommt es zu klaren Brüchen in der Musik, meist mit gesteigerter Dramatik. Durch ein zeitweises Erscheinen der Verbrennungsöfen aus roten Ziegeln mit ihren Schornsteinen an der linken und rechten Bühnenseite schafft Strassberger zudem ein zusätzlich bedrückendes Horrorszenario. Seine Lichtregie trägt stets zu einer signifikanten Verstärkung der jeweiligen dramaturgischen Aussage bei.

Martha und Lisa im Finale

Martha und Lisa im Finale

Zu den kontemplativen und lyrisch gestalteten Höhepunkten in der Baracke zählen besonders die Monologe von Martha und Katja, letztere a capella. Martha singt über die Schrecken des Todes im Lager und Katja, eine russische Partisanin, die später bei ihrem Selbstmordversuch erschossen wird, sinniert verträumt über ihre verlorene Heimat. Sie wird von Olga Tenyakova mit einem klangvollen Sopran gesungen. Nach beiden Arien spendete das Publikum Szenenapplaus! Auch der verzweifelte Versuch der jungen Yvette aus Dijon, einer Mitinsassin mit Hoffnung auf eine Zukunft noch Französisch beizubringen (Ich lebe, du lebst, er lebt…) ist berückend inszeniert. Natalia Mokeeva lässt dazu einen hellen Sopran erklingen. Auch die Mezzosopranistin Ekaterina Neyzhmak singt die Polin Krystina mit großer Empathie. Es gibt im Frauenlager noch vier Nebenrollen, deren Sängerinnen der allgemein guten sängerischen Qualität entsprechen. Ferner gibt es noch einige Sprechrollen. Grotesk mutet die 1. Szene des 2. Aufzugs an, in der Nazi-Offiziere einen Weihnachtsbaum mit Geschenken aufstellen, während drei SS-Frauen Gefangenenakten bearbeiten und im Hintergrund ein großer Haufen von Koffern und anderen Utensilien der KZ-Insassen zu sehen ist. Aus diesem wird sodann die Geige geholt, mit der auf Wunsch des Lagerkommandanten Tadeusz, der Verlobte Marthas, dessen Lieblingswalzer spielen soll. Er wird von Dmitri Starodubov verkörpert und mit einem vornehmlich lyrischen Bariton sowie bemerkenswerter darstellerischer Intensität gesungen. Sein unerwartetes Wiedertreffen mit Martha in diesem Moment zeigt Strassberger mit viel Emotion, und wie die Hoffnung auf eine Vermählung in einer ungewissen Zukunft tanzt ein Hochzeitspaar über die Bühne… Immer wieder ist aus dem Off der düster klingende Männerchor zu hören, der das unausweichliche Ende im Lager beschwört („Der letzte Blick auf eine pechschwarze Wand des Todes…“). Er verhindert jeden Anflug von Hoffnung auf ein Weiterleben. Zwischendurch kommen kurze Szenen auf dem Schiff, in denen Lisa versucht, sich bei Walter von ihren damaligen Taten freizusprechen („Ich habe meine Pflicht getan…“), was aufgrund der Intensität ihres hier gezeigten Agierens im KZ geradezu grotesk anmutet. Grotesk ist auch der Aufzug des Lagerkommandanten (Garry Agadzhanyan) mit all seinen Untergebenen, um Tadeusz beim Spielen seines Lieblingswalzers zu hören. Der Regisseur lässt Tadeusz durch einen Geiger doubeln (Denis Antropov), der gegen die Erwartung des Kommandanten Bachs Chaconne aus der Partita d-Moll spielt, zunächst ohne Orchester, welches die Melodie dann übernimmt. Sie ist danach auch noch aus dem Off zu hören. Tadeusz wird zusammengeschlagen und zu seiner Ermordung weggeschleift, während die Geige zertrampelt wird. Diese Szene gehört in ihrem starken Kontrast von künstlerischer Sinnlichkeit und exzessiver Brutalität zu den stärksten des Abends. Im Finale der Auschwitz-Szenen wird inmitten der beschwörend an die Rampe tretenden KZ-Insassen eine Darstellerin für Zofia Posmysz sichtbar, die zwei Kinder an der Hand führt, als Zeichen für eine Hoffnung… Ein eindrucksvolles Bild.

Der Epilog findet in Lisas Kabine statt, in der auf der gegenüber liegenden Seite Martha ihre verlorenen Freunde besingt und gemahnt, dass man den Schuldigen niemals vergeben möge. Dann wenden sich beide Frauen zu ihrem Spiegel, durch den hindurch sie sich sinnierend gegenseitig ansehen. Gibt es vielleicht doch eine finale Erlösung!? Strassberger lässt das offen.

Oliver von Dohnányi dirigiert das Orchester der Uraloper mit großem Engagement und vermag das hohe Maß an Emotionalität auf der Bühne in passende Töne zu kleiden. Dabei gibt es gerade in den Szenen in der Baracke zeitweise eine Leitmotivtechnik, die wiederum mit Atonalität und musikalischer Grellheit wechselt. Von Dohnányi hält die Musik für äußerst komplex und deshalb schwer zu singen, da die Sänger oft zwischen den Noten und dem Orchester singen müssen. Sie müssen sich also ganz auf sich selbst verlassen. Auch für das Orchester ist die Partitur eine große Herausforderung. In jeder Hinsicht war dies ein großer Abend für die Uraloper. Im Februar 2017 geht die Produktion nach Moskau.

Fotos: Uraloper Ekaterinburg

Klaus Billand

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