RIGA/LNO: “Valentina” 2. Reprise der UA - 18. Dezember 2014
Eine große neue Oper!
Valentina mit ihren Eltern zu Beginn
Das war ein Abend, der wahrlich unter die Haut ging! Einer der bekanntesten lettischen Komponisten, Arturs Maskats (1957), hat für die Lettische Nationaloper (LNO) in Riga die zweiaktige Oper „Valentina“ komponiert. Die Komposition dieser Oper war ein wesentlicher Event für Riga als Kulturhauptstadt Europas in diesem Jahr. So wurde der Rezensent auch im Rahmen des Kulturhauptstadt-Programms offiziell eingeladen.
Ausgelassene lettische Studenten - 1. Akt
Es war den Verantwortlichen ein besonderes Anliegen, über 70 Jahre nach den tragischen Ereignissen in ihrer Hauptstadt eine Zeit anzusprechen, die lange eine Art unartikuliertes und angstbeladenes Syndrom mit sich führte. Bis zur Wiedererlangung der lettischen Unabhängigkeit 1991 konnte ja nahezu gar nicht darüber gesprochen werden. So wählte man die Form der Oper, all die relevanten Themen anzusprechen, die im Lettland zwischen 1939 und 1944, also der Zeit vor dem 2. Weltkrieg, zu dessen Ausbruch und während der aufeinander folgenden Besetzungen des Landes durch die Rote Armee der Sowjetunion und dann durch Nazi-Deutschland, sowie die Flucht der Nazis 1944, relevant sind. Als Anker der Handlung wählte man die legendäre Film- und Theaterkritikerin Valentina Freimane, jüdischen Glaubens, die noch heute in Berlin lebt. Das Stück handelt von ihren wesentlichsten Lebensereignissen zwischen 1939 und 1944.
Der alte Farmer mit dem Sarg - 1. Akt
Komponist Arturs Maskats erhielt mehrfach den Great Music Award von Lettland und war von 1996-2011 selbst künstlerischer Direktor der LNO. Außerhalb Lettlands hat er in Russland, Finnland, Schweden, Island, Kanada, Mexiko, Israel, Estland u.a. gearbeitet. Seine Kompositionen sind gekennzeichnet durch eine intensive musikalische Sprache und Ausdruckskraft, wobei eine zeitgenössisch romantische Lesart dominiert. Das wurde mit der „Valentina“, die erst am 5. Dezember hier ihre Uraufführung erlebte, auf das Eindrucksvollste dokumentiert. Zusammen mit der Dichterin und Publizistin Liana Langa schrieb er das Libretto der Oper.
Die Rote Armee ist da - 1. Akt
Man war sich schon zu Beginn einig, dass der lettische Regisseur Viesturs Kairiss (1971) – er zeichnete auch für den sehenswerten Rigaer „Ring“ ab der „Walküre“ verantwortlich – inszenieren sollte. Wichtig war bei diesem Stück, dass anhand des Schicksals von Valentina die gesamten sozio-politischen Geschehnisse und menschlichen Katastrophen jener Zeit angesprochen werden sollten. Dabei kam Maskats zu Gute, dass er Valentina schon seit seiner frühen Jugend kannte. Er besuchte ihre Vorträge über Filmkunst und bewunderte sie als Person. Offenbar hat sie ihn in seiner Jugend künstlerisch sehr geprägt. Als er sie fragte, ob sie mit einer Oper über sich zu diesen Themen einverstanden wäre, willigte sie sofort ein und nannte die Figuren, die im Stück eine Rolle spielen sollten. Sie gab Maskats Fragmente ihres Buches „Adieu, Atlantis!“ voller Erinnerungen (ein „work in progress“), was sich bei der Erstellung des dramaturgischen Konzepts von großer Bedeutung erwies. Valentina, die lange Jahre nach den traumatischen Ereignissen nicht über diese sprechen konnte, erwies sich laut Maskats als äußerst objektiv und sachlich distanziert in der Schilderung ihres Lebens zu jener Zeit. Für ihn ist sie eine Persönlichkeit, die überleben musste und immer ehrlich zu sich selbst und den Menschen war, die sie liebte. Andererseits umfasst die Figur der Valentina ihre gesamte Epoche und reflektiert auch jene Menschen, die neben ihr lebten und ihr halfen zu überleben. „Valentina embodies the power of spirit persisting through times.“
Trennung der Eltern von Valentina - 2. Akt
Diesen hohen Anspruch hat Arturs Maskats mit seiner neuen Oper voll eingelöst. In einem unglaublich intensiv erzählten und dramaturgisch packenden Kaleidoskop mit der darauf perfekt abgestimmten Musik erleben wir alle Themen, die in diesem Kontext sowohl in der globalen wie in der persönlichen Sphäre in jenen tragischen Jahren von Bedeutung sind. Da ist zunächst die Schilderung einer noch heilen Welt zu Ostern 1939, als die Familie Besuch zum gemeinsamen Mahl nach jüdischem Ritus empfängt. Valentinas Mutter tanzt mit einem Verehrer, der meint, ihre Tochter und Alexey könnten ein gutes Paar sein. Diese eröffnet jedoch ihrer Mutter ihre heimliche Liebe zu Dima, worauf diese antwortet, nur ihre Tochter soll entscheiden, mit wem sie das Leben zusammen gestalten will. Noch sieht man ausgelassene Studenten den Beginn des akademischen Jahres feiern. Alexey stellt Valentina und Dima seinem Freund Valdis vor, was unmittelbar die Eifersicht von Valdis’ Cousine Elsa hervor ruft, die in Dima verliebt ist. Immer wieder kommt unbemerkt eine alte stumme Frau (Ieva Kepe) auf die Bühne, die heutige Valentina, die das Geschehen aus der Retrospektive erlebt – ein geschickter dramaturgischer Kunstgriff des Regisseurs, daran zu erinnern, dass Valentina noch unter uns lebt (und das alles durchaus real ist bzw. – wieder – werden könnte…). Stets ist die Stadt Riga in einem Bild zu sehen, bis dieses auf einmal von einer roten Flagge durchstochen wird – die lettische Fahne wird eingeholt: Die Rote Armee hat Riga besetzt! Das ist die alles erdrückende politische Wende zum Krieg, die Valentinas Vater sofort begreift, während die Tochter naiv noch immer an einen guten Ausgang glaubt. Zuvor hatte Kairiss einen alten Farmer symbolträchtig an einem Sarg hobeln und das Schicksal Lettlands beschwören lassen …
Dima mit Valentina - 2. Akt
Die Tragödie der jüdischen Familie Valentina Freimanes nimmt mit Beginn des 2. Aktes ihren endgültigen Lauf. Die Nazis haben nun Lettland besetzt und die Judenverfolgung aufgenommen. In einer äußerst berührenden Szene trennen sich die Eltern von der Tochter, um mit anderen jüdischen Mitbürgern zuerst ins Getto und dann in die Gaskammer zu gehen. Die Mutter reißt Valentina zum Schluss noch den Judenstern von der Jacke. Die auch unter diesen Umstanden zunächst glückliche Beziehung zwischen Valentina und Dima, die angesichts der kommenden Gefahren auf Rat der Mutter geheiratet haben, wird durch Nazi-Schergen mit der Erschießung Dimas zerstört, als er Valentina vor ihnen versteckt. Diese stehlen auch noch seine letzten Habseligkeiten. Man sieht einen nahezu pervers ausgelassenen Ball der Nazi-Offiziere mit all den bekannten Exzessen, der bald darauf von den Scheinwerfern der nun wieder eintreffenden Sowjets in die Flicht geschlagen wird – alles Szenen von enormer Intensität und Echtheit.
Elsa in Verzweiflung - 2. Akt
Das Eifersuchtsdrama Elsas um Dima nimmt seinen zerstörerischen Lauf für Elsa, die sich dem Alkohol ergibt und nun einfach drauf los leben will. Auch die Freundschaft zwischen Alexey und Valdis, der sich auf die Seite der Deutschen geschlagen hat und nun ebenfalls mit ihnen fliehen muss, gerät durch den Krieg in Gefahr. Am Ende irrt Valentina allein auf den Strassen Rigas herum, den Nazis entkommen. Sie hat überlebt, aber ohne Angehörige und zu Hause. Die Latgalierin Alma nimmt sich ihrer an und führt sie zu einem Doktor, der sich um sie kümmert und über das Schicksal des Landes sinniert, bis er sanft entschläft – Valentina bleibt allein zurück.
Die beiden Nazi-Schergen mit Valdis - 2. Akt
Bei all der Handlungsdichte mit etlichen kleineren Details, die hier nicht kommentiert werden können, wirkt das Stück niemals oberflächlich. Es gibt große Momente innerer Spannung, aber auch solche mit bewusst hohlem Pathos – stets genau zur Situation passend und damit sehr wirkungsvoll. Es ist erstaunlich und zeugt von großer Kunst, wie Regisseur Kairiss mit der Bühnenbildnerin und Kostümdesignerin Ieva Jurjane und der Lichtregie von Nicol Hungsberg in nur drei Stunden mit einer Pause diesen enormen Handlungsbogen schlüssig und bei einer immer direkt am Geschehen orientierten Tonsprache zeigt. Das Einheitsbühnenbild, bestehend aus zwei fliehenden Hauswänden mit wohldurchdachten Details, eröffnet durch die Drehbühne immer neue Szenen. Es ist sicher kein Zufall, dass im 2. Akt Rauch aus Schornsteinen aufsteigt, die wie jene in den Konzentrationslagern geformt sind…
Der Doktor...
„Valentina“ ist ein ganz großer Wurf der LNO, die schon seit langem mit unkonventionellen und gekonnt zeitgenössisch gestalteten Interpretationen des klassischen Opern-Kanons beeindruckt. Mit dieser Oper von Maskats hat man aber ein Thema gewählt, das weit über den „normalen“ Wirkungsgrad eines Opernstoffes hinaus geht – zumal es aus geringer Distanz zum tatsächlichen Geschehen ummittelbar nachvollziehbar ist. Dabei besitzt es eine gewisse Universalität, die weit über die lettische Thematik hinaus geht. Es würde den Rezensenten dennoch nicht wundern, wenn „Valentina“ über kurz oder lang zu einer Art lettischer Nationaloper avancieren würde. Immerhin lebt ja auch Valentina noch…
Das Finale
In der 2. Reprise sang bis auf eine Nebenrolle die Besetzung der UA. Inga Kalna war eine emphatische Valentina mit ausdrucksvollem Sopran, der nur bei einigen Höhen leicht an seine Grenzen stieß. Aber hier ist bisweilen schon hochdramatisches Potenzial gefragt. Janis Apeinis war ein prägnanter Dima, darstellerisch sehr intensiv. Seine Erschießung wirkte absolut authentisch, der Pulverdampf zog wie ein Menetekel ins Parkett… Mihails Culpajevs gab den Alexey mit gutem tenoralem Material, Rihards Macanovskis den Valdis mit einem sehr klangvollen Bariton. Kristine Zadovska beeindruckte als Elsa mit auf Wagner weisendem dramatischem Aplomb und expressiver Darstellung – ein großes Talent! Ljubov Sokolova, aus St. Petersburg als Gast eingeladen, war mit ihrem farbenreichen Alt eine Luxusbesetzung für Valentinas Mutter. Sie sang des Öfteren die Erda u.a. in Erl, Essen und Riga. Den Vater gab zeitweise berührend Armands Silins. Ieva Parsa war eine rührend um Valentina besorgte Alma, ebenso Samsons Izjumovs als Doktor. Laura Grecka als Gouvernante, Krisjanis Norvelis als alter Farmer, Guntar Rungis und Viesturs Vitols als Nazi-Schergen, sowie Nauris Puntulis als Kavalier der Mutter Valentinas rundeten das ausgezeichnete lettische Ensemble ab. Der Chor und der Kinderchor der LNO trugen das Ihre zum Gelingen des Abends bei.
Vlnr. Armands Silins, Mihails Culpajevs, GMD Modestas Pitrenas, Komponist Arturs Maskats und Inga Kalna beim Schlussapplaus
Der GMD der LNO, Modestas Pitrenas, leitete das Orchester mit großer Hingabe und Souveränität bei einer recht komplexen Partitur. Er konnte immer wieder eindrucksvoll die vielen Steigerungen herausarbeiten, die auf dramatische Wendungen des Geschehens hinführten. Das musikalische Gewebe ist angesichts der Geschehnisse und Dramatik oft sehr expressiv konturiert, hat immer wieder aber auch romantisierende Tonfarben, ohne je süßlich zu werden. Es gab auch ein Reihe interessanter Soli, insbesondere der 1. Violine, der Flöten und Klarinetten. Pitrenas hielt den Spannungsbogen zwischen Graben und Bühne stets aufrecht. Auch in der dritten Aufführung der „Valentina“ zollte das Publikum im fast vollen Haus begeisterten Applaus, zu dem auch der Komponist auf die Bühne gerufen wurde. Am 19. Mai 2015 wird das Stück an der Deutschen Oper Berlin gastieren – ein Besuch ist absolut empfehlenswert. Im Winter und Frühjahr steht es noch mehrmals auf dem Spielplan der LNO.
Fotos 1-10: Gunars Janaitis
Foto 11: Klaus Billand
Klaus Billand