Wien: Boris Godunow – 23. Mai 2022
Gestörte Dramaturgie
Boris Godunow
Der „Boris Godunow“ von Modest Mussorgskij nach Aleksandr Puškin ist keine leichte Kost. So sollte man auch nicht von einem allzu „unterhaltsamen“ Abend ausgehen, wenn man in diese Oper geht, die mittlerweile ihre 33. Aufführung in der Inszenierung mit Bühnenbildern und Kostümen von Yannis Kokkos erlebt und noch aus der Ioan Holender-Ära stammt. Die düsteren Bühnenbilder, die zudem den Bühnenraum tief ausspielen, was heutzutage leider keine Selbstverständlichkeit mehr ist, ermöglichen große Choraufmärsche und -bewegungen. So kommt die in diesem Werk so wichtige Rolle des Volkes und seiner Darstellung der Nöte, mit der es zurechtzukommen hat, voll zu ihrer dramaturgischen Bedeutung und zu entsprechend dramatischem Ausdruck.
Gerade deshalb kann der Prolog überzeugen, in dem das Volk zunächst gezwungen wird zu beten, dass der noch nicht entschiedene Boris Godunow nach der Ermordung des rechtmäßigen Thronerben Dimitri der nächste Zar werde. Auch die folgende Krönungszeremonie mit der Ansprache des neuen Zaren und dem Einzug in die Kathedrale hat Kokkos wirkmächtig inszeniert. Da bietet das erste Bild des 1. Akts mit dem einsam in der Zelle des düsteren Tschudow-Klosters an seiner Chronik sitzenden Pimen einen starken Kontrast zur prunkhaften Krönungsszene. Der greise Pimen führt so in die eigentliche Dramatik der weiteren Entwicklung ein und hält am Ende der Oper einen starken Monolog, in dem er das Wunder am Grabe des ermordeten Dimitri berichtet, somit die grausame Tat des Zaren Boris allen klar macht und ihn seinem Ende zutreibt.
Pimen
Das alles, wie auch die weiteren Szenen des 2. bis 4. Akts hat Kokkos durchaus eindrucksvoll und mit der erforderlichen Nachdrücklichkeit inszeniert. Allein, die nach und nach tatsächlich nervigen Umbaupausen sorgen dafür, dass eine anhaltende Spannung nicht aufkommen kann. Es ist, als ginge ein Bilderbogen an einem vorbei, den man etwa nennen könnte „Szenen aus dem Leben von Boris Godunow“, der aber niemals die Intensität einer dramatischen Handlung aufkommen lässt. Und daran krankt diese Produktion schwer! Wenn man das Ganze auf die Drehbühne gesetzt hätte, wären vielleicht beim Bühnenbild einige Kompromisse nötig geworden, die aber zugunsten schnellerer Szenenwechsel verkraftbar gewesen wären. Oder man hätte eben doch eine Pause einlegen sollen, auch wenn die Urfassung nur etwa zwei Stunden dauert. Eine Pause wurde neulich sogar in den „Fliegenden Holländer“ in Graz eingeschoben, wo sie nun wirklich gar nicht hinpasste…
Aber in Wien hat man ja noch den ukrainischen Bassisten Alexander Tsymbalyuk als Boris Godunow, vielleicht d e r Boris unserer Zeit. Er gestaltete die Figur wirklich großartig, von der glorifizierten Ernennung als Zar über die beginnenden Zweifel bis zu seinem dramatischen Ende. Ein Zar Boris aus dem Bilderbuch! Und dazu mit einem kraftvollen und ausdrucksstarken Bass! Tsymbalyuk hatte in Vitalij Kowaljow als Pimen einen starken Widerpart, der den greisen Mönch mit unglaublicher innerer Ruhe und ebenfalls ausdrucksvollem Bass verkörperte. Sein Monolog am Schluss war einer der Höhepunkte des Abends.
Schuiskij
Thomas Ebenstein blieb dagegen als Schuiskij stimmlich und darstellerisch etwas blass. Man könnte das aber durchaus als passend für den unqualifizierten Möchtegern und schmierigen Emporkömmling sehen, der aus den Problemen anderer gnadenlos Vorteil zieht und dabei über Leichen geht. Sehr gut konnten sowohl Dmitri Golovnin als Grigorij und Ilja Kazakov in der Partie des Warlaam als offenbar erfolgreiches Mitglied des Opernstudios gefallen. Ileana Tonca vermochte als Xenia ihre Nöte nach Verlust des Bräutigams nachvollziehbar darzustellen, während Margaret Plummer, die kürzlich noch eine gute Charlotte im „Werther“ am LT Tirol in Innsbruck gesungen hatte, als Fjodor etwa blass blieb. Stephanie Houtzeel war eine gute Amme. Auch alle weiteren Rollen waren mit Daniel Jenz, Stephanie Maitland, Dan Paul Dumitrescu, Andrea Giovannini, Evgeny Solodovnikov, Marcus Pelz und Juraj Kuchar gut besetzt. Eine zentraler Akteur des Abends war der Chor der Wiener Staatsoper unter der Leitung von Thomas Lang.
Sebastian Weigle schuf am Pult des Orchesters der Wiener Staatsoper die musikalischen Höhepunkte und Zwischentöne, die so elementar für diese russische Oper sind und die die langen Umbaupausen immer wieder etwas in Vergessenheit geraten ließen, aber nicht ausgleichen konnten. Bei dieser guten musikalischen Leistung wäre mit einer stringenteren Inszenierungstechnik viel mehr aus dieser Urfassung herauszuholen gewesen.
Fotos: Wiener Staatsoper/Michael Pöhn
Klaus Billand