Berlin/Deutsche Oper: Siegfried - Kurzbericht Premiere - 12. November 2021
Stefan Herheims Unterwäsche-Party im Koffer-Nirwana
Deutsche Oper bei Nacht
Gestern Abend ging die Premiere des „Siegfried“ aus Richard Wagners „Ring des Nibelungen“ in der Neuinszenierung von Stefan Herheim über die Bühne der DOB, der letzte der vier Abende der Tetralogie, der Corona-bedingt bisher noch nicht seine Premiere erleben konnte. So war man einerseits durchaus gespannt, was sich der kommende Intendant des Theaters an der Wien dazu einfallen lassen würde. Man konnte sich aufgrund der drei anderen Abende aber auch schon in etwa vorstellen, wie das werden könnte. Und es ging dann tatsächlich und letztlich doch wenig überraschend mit einer Bild- und Statistenüberflutung weiter, dass die gute musikalische Leistung des Orchesters der Deutschen Oper Berlin unter der Wagner-erprobten Hand von GMD Sir Donald Runnicles gar nicht recht zur Wirkung kam, beziehungsweise wahrgenommen werden konnte. Es war wieder einmal mehr Theater als Musik, jedenfalls kein Musiktheater!
Iain Paterson, Clay Hilley und Ya-Chung Huang beim Applaus nach dem 1. Aufzug
Es ging Herheim einmal mehr um die optisch so explizit wie mögliche Darstellung von Gefühlen und Situationen der Protagonisten durch über 30 Statisten. Diese bevölkern mehr oder weniger ständig inmitten von kaum noch übersehbaren Altkofferbergen die von Herheim und Silke Bauer gestaltete Bühne, beäugen die Sänger und kommentieren deren Verhalten und Gesang sogar untereinander, gestisch natürlich. Damit wird die auch durch die Musik – der in dieser Inszenierung offenbar kaum noch etwas geglaubt wird – von Wagner so wunderbar suggerierte Intimität zentraler Szenen und Momente verflacht, wenn nicht gar völlig aufgehoben. Das war schon bei Wotans Abschied in der „Walküre“ so und findet nun einen weiteren Höhepunkt, wenn etwa 15 binäre und diverse Pärchen, sorgsam alle mit weißer Unterwäsche bekleidet, sich genussvoll allerdings sehr bemüht wirkenden Kopulationsszenen hingeben. Man muss dem kommenden Liebespaar wohl zeigen, wie es geht oder eventuell gehen könnte. Ein noch platteres „Siegfried“-Finale habe ich noch nie erlebt. Selbst Nina Stemme als Brünnhilde auf dem Zentrum allen Handelns dieser eigenartigen Produktion, dem Konzertflügel mit wundersamem Deckel, schaut verdattert drein… Das Schicksal, mehr oder weniger früh am Abend in weißer Unterwäsche der Kostümbildnerin Uta Heiseke im Licht von Ulrich Niepel dazustehen, ereilt übrigens auch viele Protagonisten in dieser Inszenierung. Es drängt sich bisweilen der wohl unrichtige Eindruck auf, Stefan Herheim wolle in Konkurrenz mit den letzten Palmers-Kreationen treten, oder ist es – zumal mit den gezeigten sexuellen Handlungen – eine erotische Obsession?! Hinzu kommt eine offenbare Verliebtheit in das durchaus antiquierte Bühnenbild-Stilmittel wallender weißer Tücher hinzu, die immer wieder im Klavier verschwinden oder aus ihm herauskommen, und an deren kleineren Ausgaben auch gern mal geschnüffelt wird. Bis auf einige in der Tat beachtliche Momente wuselt der Abend mit solchen Geschäftigkeiten im tristen und alles umfassenden Koffermilieu vor sich hin. Diese gehören sicher zu den Gepäckstücken, die man bei Verlust gar nicht mehr vermissen würde oder nochmals ehen will…
Die Statisten in Unterwäsche beim Schlussapplaus
Gesungen wurde aber gut bis sehr gut. Der US-Amerikaner Clay Hilley stellte sich zum ersten Mal als Siegfried an der DOB vor und hat einen kräftigen Heldentenor, der meines Erachtens noch etwas mehr Facettierung und damit Ausdruckskraft haben könnte. Aber die großen Herausforderungen der Riesenpartie meistert er ohne Probleme. Nina Stemme gibt die gewohnt gute Brünnhilde im letzten Aufzug mit ihrer vollen und wohlklingenden Mittellage wieder beeindruckend, etwas an der Grenze der vokalen Möglichkeiten bei den Spitzentönen. Ob sie sich in dieser Rolleninterpretation wohl fühlte, möchte ich hier nicht unbedingt bestätigen. Iain Paterson singt nach dem „Walküre“-Wotan nun auch den Wanderer, der ihm ob seiner Lyrik noch besser zu liegen scheint. Er schafft mit seinem eher hell timbrierten Bassbariton natürlich beeindruckende Höhen.
Schlussapplaus nach der Premiere für alle ausser Stefan Herheim
Jordan Shanahan ist ein ungewöhnlich stimmstarker und prägnanter Alberich, der auch zu den unmöglichsten Momenten auf die Bühne kommen muss oder schon auf ihr ist, bevor es überhaupt losgeht… Der erst 32jährige taiwanische Tenor Ya-Chung Huang spielt und singt einen ungemein eindrucksvollen Mime, der hier, aus welchen Gründen auch immer, Richard Wagner selbst spielen muss, ein Gag. Tobias Kehrer ist ein kraftvoll singender und sterbender Fafner und liegt zum Schluss ebenfalls in seiner Unterwäsche auf dem Souffleurkasten. Judit Kutasi ist nach dem „Rheingold“ auch eine starke Erda im „Siegfried“ mit kraftvollem Mezzo und einem unmöglichen Kostüm, das etwa meine Oma vor dem Fernseher trug. Aber die weiße Unterwäsche blieb ihr erspart. (Loriot hätte wohl gesagt: „Schwein jehabbt“). Sebastian Scherer, Solist des Knabenchores der Chorakademie Dortmund e.V., singt den „Waldvogel“ mit mannigfacher Bühnenaktion so falsch wie eben möglich. Dem Publikum gefiel‘s.
Das leading team kommt erst morgen nach der „Götterdämmerung“ vor das Publikum. Ich bin gespannt, wie da die Reaktion sein wird.
(Ausführliche Rezension des ganzen „Ring“ in Kürze).
Fotos: Klaus Billand
Klaus Billand