Budapest/Palast der Künste/Müpa: Der Ring des Nibelungen - WA vom 9.-12. Juni 2022
Äußerst sehens- und hörenswertes Revival
Der Béla Bartók Konzertsaal
Im Jahre 2007 brachten die Wagner-Tage in Budapest im Palast der Künste – MÜPA südlich der ungarischen Metropole unter der musikalischen Leitung von Ádám Fischer zum ersten Mal den „Ring des Nibelungen“ auf die Bühne, und zwar in einer halbszenischen Inszenierung von Hartmut Schörghofer im damals noch recht neuen Béla Bartók Konzertsaal. Die Produktion wurde ein Riesenerfolg mit Besuchern aus Ungarn, Österreich und einem Großteil der weiten Wagner-Welt und wurde 2014 ebenso erfolgreich wieder aufgenommen. Auch 2019 fand sie noch einmal statt. Auch damals, wie nun im Juni erneut, legte man Wert auf eine Aufführungsfolge an vier Abenden hintereinander, wie Wagner es einst selbst wollte.
Die Rheintöchter
Nun wurde die Produktion ein weiteres Mal gezeigt, gleich zweimal im Juni. Regisseur Schörghofer und das leading team der Wagner-Tage (Dramaturgie Christian Martin Fuchs, Kostüme und Puppen-Design Corinna Crome, Herren meist Frack und Damen Abendkleid; Lichtregie Máté Vajda; Video Szupermodern Filmstúdiò Budapest; Choreograf Gábor Vida et al.) waren aber der Meinung, dass angesichts der mittlerweile fortgeschrittenen technischen Möglichkeiten und auch weil Schörghofer ganz einfach der Meinung ist, dass jede Wagner-Inszenierung eine „Halbwertszeit“ hat, eine Überarbeitung der Produktion zu einer Wiederaufnahme angezeigt war. Dabei bezieht sich der Regisseur auf Wagners eigene Worte, der schon bei der Uraufführung 1876 in Bayreuth meinte, dass ständig an der Inszenierung weitergearbeitet werden müsse, es also ein work in progress sei. Man wollte nun insbesondere die Möglichkeiten der neuen visuellen Medien nutzen, um die psychologischen Verbindungen der Protagonisten besser darzustellen und das emotionale Tauziehen aufzuklären, welches in die „Ring“ – Mythologie verwoben ist. Während man bis 2014 noch viele analoge Bilder produzierte, konnte man nun fortschrittlichere Video- und Animationstechnologien einsetzen, wobei durchaus nicht auf Perfektion abgezielt werden sollte. Denn die gibt es in der Kunst nicht, wie Schörghofer im Programmheft richtigerweise unterstreicht.
Die Riesen sind da
Und dann sagt er etwas sehr Bemerkenswertes, was heute in Zeiten des überbordenden Wagnerschen Regietheaters, wie wir es in letzter Zeit an der Deutschen Oper Berlin, bei den Salzburger Osterfestspielen, an der Wiener Staatsoper, in Aix en Provence und anderen Häusern erlebt haben: „Man muss dem ‚Ring‘ mit Demut begegnen, denn er ist größer als wir. Der ‚Ring’ ist eines jener sehr seltenen Meisterwerke, die aus den höchstpersönlichen Gefühlen ihrer Schöpfer hervorgehen und deshalb auch die höchstpersönlichen Gefühle ihrer Interpreten fordern.“ Und mit der Art und Weise, wie Schörghofer diese halbszenische „Ring“-Produktion überarbeitet hat, möchte er so viele Menschen wie möglich erreichen. Denn er ist davon überzeugt, dass Kunst ein Teil des Lebens ist. Und da hat er ganz zweifellos Recht! Ein wesentliches Bedürfnis war Schörghofer, mit der Neu-Interpretation des „Ring“ uns allen bewusst zu machen, wie mythologische Muster miteinander verwoben sind und unter unserer rationalen Wahrnehmungsgrenze operieren. Das ist ihm mit der neuen Version in vielerlei Hinsicht gelungen.
Wotan im Rheingold
Das Rheingold – A Rajna kincse
Der Vorband der Tetralogie beginnt im Béla Bartók Saal in völliger Dunkelheit im Orchester, sodass das „Rheingold“-Vorspiel mit seinen 136 Es-Dur-Takten in mystischer Verklärung aus den Streichern des Radiosymphonieorchesters unter der Stabführung von Ádám Fischer erklingen kann. Dann tauchen auf den drei großen transparenten Projektionsflächen mit jeweils vier schwenkbaren Lamellen hinter der einem Pyramidenstumpf ähnlichen Bühne mit einer Treppe im Zentrum drei Wassernixen im Rhein auf. Das Rheingold rieselt bald als Goldblättchen durch das Wasser. Vorn singen anmutig gekleidete Rheintöchter in schönster Art und Weise, Orsolya Sáfár als Woglinde, Gabriella Fodor als Wellgunde und Zsófia Kalnay als Flosshilde. Ihr Ruf nach dem Rheingold ist erstklassig! Wenn das Gold gestohlen ist, vereist das Wasser zu Kristallen, ein starkes Bild! Im 2. Bild erleben wir Walhall als ein bewegliches Hochgebirge, wie von Diamanten geformt, eine Assoziation mit der Macht der Götter. Die Riesen treten wieder von der Seite im Frack auf, werden aber von großen Puppenköpfen über der Bühne und einem Riesenarm optisch eindrucksvoll übersteigert. Sorin Coliban singt mi seinem samtenen und dennoch stimmstarken Bass den Fasolt, und der Doyen der Produktion, Walter Fink, mit einem schon etwas hohl klingenden Bass den Fafner. Atala Schöck ist eine ebenso anmutige wie stimmlich exzellente Fricka, und Gleiches kann man auch von der Freia von Lilla Horti sagen, die schon leicht dramatisch singt. Der altbewährte Christian Franz ist wie so oft schon wieder dabei und hier der Loge. Darstellerisch wie immer sehr intensiv, wirkt aber seine oft allzu deklamatorische Gesangstechnik bei gleichwohl guter Phrasierung und Diktion oft störend. Tomasz Konieczny, der vor vielen Jahren hier seine Wagner-Karriere mit dem Amfortas begann – ich kann mich noch gut erinnern – hat an stimmlicher Statur gewonnen, vor allem, was die früher intensiven Vokalverfälschungen angeht. Dennoch ist die Stimme, zumal wenn es in die Höhe geht, recht metallisch und verliert an Wärme. Er war auch als „Walküre“-Wotan engagiert. Natürlich sind seine darstellerischen Fähigkeiten unbestritten, die er ja Ende April erst im Zürcher „Rheingold“ bewies. Für mich ist er aber immer noch der bessere Alberich als Wotan.
Alberich mit seinen Hunden
Im 3. Bild werden die Nibelungen zunächst als Lemuren auf den Projektionsflächen gezeigt, eine skurriler Effekt. Klangschön schlägt ein Musiker die Ambosse an der Seite. Warum kann man das so exzellent gestimmt nicht auch einmal bei ganz normalen szenischen Aufführungen machen?! Auch kommen acht Tänzer zum Einsatz, die das Bild sehr bewegen. Jochen Schmeckenbecher als bewährter Alberich betont vor allem die gesangliche Seite seines Vortrags, was bestens in eine solche Inszenierung passt. Die Verwandlungen werden geschickt durch die Lamellen der Projektionsflächen gemacht. Cornel Frey kündigt schon hier seine großen stimmlichen und schauspielerischen Qualitäten als Mime an, die er im „Siegfried“ dann voll realisieren wird. Im 4. Bald ist besonders die Erda-Erscheinung von Nadine Weissmann interessant, die hinter dem Glas in einem goldenen Strudel singt, in dem die drei Nornen kreisend zu sehen sind – ein sehr mythisches und beeindruckendes Bild. Allein, ihre Stimme hätte verstärkt werden müssen. Sie war ganz einfach zu leise und dadurch benachteiligt. Ein Höhepunkt der Aufführung ist der Raub des Ringes durch Wotan und Alberichs darauf folgender Fluch. Als Fafner virtuell Fasolt erschlägt, wird die Milka-artige Gebirgslandschaft Walhalls von hässlichen Blutflecken getrübt, wieder ein guter Einfall. Szabolcs Brickner als Froh und Zsolt Haja als Donner mit hellem Bariton inszenieren stilgerecht den Gewitterzauber. Einen Regenbogen gibt es am Ende auch, während der Rhein vereist ist.
Wotan mit Walküre Alison Oakes
Die Walküre – A walkür
Ádám Fischer, der mit dem Orchester schon im „Rheingold“ keine Wünsche offen ließ, was durch die gute Akustik des Saales noch verstärkt wird, beginnt mit einem sehr dynamischen Vorspiel der „Walküre“, aus dem die Flucht Siegmunds gut zu hören ist. Sorin Coliban ist auch ein imposanter Hunding, der hier von einigen gefährlich wirkenden Tänzern mit Hundekopf begleitet wird und so ständig Angst einflößt. Daniel Brenna kann als Siegmund zwar im Prinzip gutes tenorales Material vorweisen und singt auch eindrucksvolle Wälse-Rufe. Die Intonation und Linienführung lassen aber zu wünschen übrig. In Karine Babajayan steht ihm eine mädchenhaft wirkende und auch so agierende Sieglinde gegenüber mit einem ins Dramatische gehenden klangvollen und wortdeutlichen Sopran. Die beiden passen gut zueinander und wirken deshalb auch überzeugend als Paar. Zu Beginn taucht der älteste von nun drei Loge-Ausführungen in feuerrotem Anzug mit dem Schwert auf. Im Moment der eigentlichen Schwertgewinnung im Finale des 1. Aufzugs ist aber keines da, nicht ganz ersichtlich. Stattdessen gibt es einen Sonnenaufgang über dem Walhall-Gebirge.
Siegfried mit Brünnhilde - Stefan Vinke und Catherine Foster
Zu Beginn des 2. Aufzugs spendet das sehr zahlreich erschienene Publikum Ádám Fischer und den Orchester großen Auftrittsapplus – absolut verdient. Vor dem computeranimierten Hochgebirge kommt nun der große Moment von Alison Oakes, die für Iréne Theorin eingesprungen ist und eine überraschend gute Brünnhilde singt. Nicht hochdramatisch, aber mit einem Sopran, der bei bester Technik alle Klippen der Partie mit scheinbarer Leichtigkeit meistert. Und dabei ist sie mimisch und darstellerisch auch noch sehr engagiert. Das Finale mit Tomasz Konieczny im 3. Aufzug vor einem mit Sand zuwehenden Vulkanschlot wird zu einem Höhepunkt des „Ring“ im MÜPA. Atala Schöck ist eine nun noch intensivere Fricka im Disput mit Wotan. Wenn sie ihm den Eid abgenommen hat, verfällt das Walhall-Gebirge in eine zerstörte Stadt, die beklemmend an die Ukraine in dieser Zeit erinnert. Der Kampf am Ende des 2. Aufzugs ist nicht der Rede wert. Der 3. Aufzug beginnt mit einem nicht nur musikalisch, sondern auch tänzerisch dynamischen Walküren-Ritt. Denn die acht Sängerinnen werden von acht Tänzern mit Pferdekopfskeletten begleitet, die sie im Takt der Musik geschickt bewegen. So entsteht tatsächlich der Eindruck eines Ritts durch die Wolken. Das Walküren-Oktett singt dabei äußerst ansprechend. Auf den Projektionsflächen läuft immer ein passendes Video-Programm – an allen Abenden. Sieglinde singt ein herrlich emotionales „hehrstes Wunder“ und der Feuerzauber wird vom tanzenden Loge begleitet.
Ádám Fischer dirigiert den 3. Aufzug Siegfried
Siegfried – Siegfried
Stefan Vinke als Siegfried und Cornel Frey als Mime gestalten sängerisch wie schauspielerisch einen ganz starken 1. Aufzug. Im Hintergrund lauern die beiden Raben Wotans. Egils Silins kommt als Wanderer mit großer Souveränität und gestaltet nicht nur die Wissenswette, sondern die ganze Partie mit seinem warmen, klangschönen und technisch perfekt geführten Bassbariton bei bester Direktion. Kein Wunder, dass er nun auch für den „Rheingold“-Wotan in Bayreuth besetzt wurde. Der Sänger strahlt stets große Ruhe und Sachlichkeit aus. Im 2. Aufzug kommt Alberich mit sechs Katzenmenschen, die wie Sicherheitsbeamte auf allen Vieren misstrauisch die Umgebung beäugen, damit ihrem Herrn nichts geschieht. Man erlebt eine witzige Drachenkampf-Darstellung als Weiß auf Schwarz. Dazu röhrt Walter Fink den Fafner, und mit Zita Szemere gibt einen anmutig mit guter Koloratur zwitschernden Waldvogel, der Siegfried in die richtige Richtung leitet. Im 3. Aufzug wird ja die Welt verhandelt, und so gleitet gleich eindrucksvoll der halbe Planet über die Projektionsflächen, während Egils Silins nachdrücklich Nadine Weissmann als Erda aus dem Schlaf ruft, die wieder in dem Strudel erscheint und zu leise singt. Hier hat Wotan als Wanderer nun auch mal einen Speer, der bis dahin nicht gesehen wurde. Überhaupt ist festzustellen, dass mehr wesentliche Requisiten zum Einsatz hätten kommen können, um die szenische Komponente zu verstärken. Im 3. Aufzug kehrt die Weltklasse-Brünnhilde Catherine Foster wieder auf die MÜPA-Bühne zurück und singt mit dem ebenfalls zu neuen tenoralen Höhen bei schöner baritonaler Grundierung gelangten Stefan Vinke, der durch einen Video-Feuersturm gehen muss, ein mitreißendes Schlussduett.
Brünnhildes Schlussgesang mit Catherine Foster
Götterdämmerung – Az istenek alkonya
Der Prolog mit den Nornen ist sehr gut choreografiert, und Anna Csenge Fürjes als Erste, Judit Németh als Zweite und Polina Pasztircsák als Dritte Norn leisten stimmlich Erstklassiges. Pasztircsák singt auch eine sehr gute Gutrune. Im Vorspiel lässt Ádám Fischer ein große Steigerung im Graben erklingen, bis die Sonne über die Brünnhilde-Felsen in C-Dur aufgeht. Ein leuchtender hochemotionaler Dialog zwischen Catherine Foster als Brünnhilde und Stefan Vinke als Siegfried folgt. Bei ihrem hohen C am Ende könnte man fast die Schuhsohlen wechseln, ebenso wie bei jenem hohen C von Stefan Vinke zu Beginn des 3. Aufzugs auf „Hoihe!“ Das macht ihm in der Tat niemand nach! Die Gibichungen sehen wir vor einer New Yorker Hochhauslandschaft, Károly Szemerédy ist ein Gunther mit gutem Bariton. Petra Lang kann als Waltraute aber nicht so wie gewohnt überzeugen. Ihre Gesangstechnik und Tonbildung weicht so stark von der aller Übrigen ab, dass dies besonders augenfällig im Dialog mit Catherine Foster als Brünnhilde wird. Die Töne wirken irgendwie aufgesetzt, nicht grade heraus, auch zu guttural. Die Szene findet vor einem verschneiten Hochgebirge statt, Walhall hat seine Aktivitäten beendet und harrt des Endes…
Applaus für Karine Babajayan als Sieglinde
Wenn Gunter Brünnhilde überwältigt, sehen wir oben zwei als große Raben verkleidete Personen, die auch später immer wieder die Szenerie beäugen, auch aus dem Rang. Im 2. Aufzug lässt Albert Dohmen seine große Stimmkultur als Hagen erkennen. Was hat man von ihm nicht schon für große Wotane gehört! Das Zwiegespräch mit Alberich Jochen Schmeckenbecher wird so fast zu einem Wagnerschen Belcanto-Ereignis. Auch in der „Götterdämmerung“ singen bis auf Petra Lang alle recht wortdeutlich. Im 3. Aufzug sieht man in der Rheintöchter-Szene, wie ein toter Wolf ins Wasser des Rheines fällt und untergeht – starker Symbolismus für den bevorstehenden Untergang Walhalls. Das Wasser ist nun auch total verschmutzt. Leider kommen die Mannen wie schon zuvor wieder mit ihren albernen Pappmasken und Papierschürzen. Im Hintergrund sind aus dem Wasser heraus Hochhäuser zu sehen, also Verschwimmen von Mythos und Realität…?! Hagen tötet Siegfried mit einem harten Schlag auf den Rücken. Und Catherine Foster setzt zu ihrem umwerfenden Schlussgesang an, während die Rheintöchter die Rückkehr des Goldes in den Rhein feiern. So etwa wollte es doch Wagner auch, oder nicht?!
Schlussapplaus für die Rheintöchter nach der Götterdämmerung
Nicht nur die zeitweise stark veränderte Optik und Theatralik dieser Wiederaufnahme machten diesen „Ring“ zu einem Erlebnis der besonderen Art und bestätigten mit der musikalischen Leistung des Ungarischen Radiosymphonieorchesters unter der überaus Wagner-erfahrenen Hand von Ádám Fischer, dass die Wagner-Tage in Budapest nach Bayreuth das zweitbedeutendste Wagner-Festival sind. Vier großartige „Ring“-Tage gehen zu Ende. Im kommenden Jahr kommt wahrscheinlich wieder einer, oder gar zwei…
Fotos: Attila Nagy und Bálint Hirling 2-9; K. Billand 1, 10-11
Klaus Billand