Interview mit dem Dirigenten Evan-Alexis Christ, Berlin und Sofia - November 2020
Über Harvard, Musik und 2,99$-Steaks in Las Vegas
Maestro Evan-Alexis Christ
Schon lange kenne ich Evan-Alexis Christ. Da war er Generalmusikdirektor am Staatstheater Cottbus, wo er einen neuen „Ring des Nibelungen“ von Richard Wagner einstudierte und mit großem Erfolg eines mit hohem Einsatz an diese Mammutaufgabe herangeführten und dann beeindruckend aufspielenden Cottbuser Orchesters mehrmals zur Aufführung brachte. Das war in den Jahren 2012-2014, als Evan-Alexis dort in der Mitte seiner zehnjährigen Amtszeit als GMD war und „Weltläufigkeit …, Charisma und Enthusiasmus“ in das Theater brachte, wie ein Musikkritiker schrieb. Dieses Engagement, die Emotionalität, mit der er sein musikalisches Konzept auf das Orchester übertrug, spürte ich damals auch sofort. Von den Cottbuser Bürgern wurde er 2010 zum Cottbuser des Jahres gewählt.
Schöne Erinnerungen verbinde ich mit jener Zeit, und so war es eine gute Gelegenheit, Evan-Alexis bei einem Besuch in Berlin, wo er mit seiner kleinen Familie lebt – seine Frau ist Geigerin – zu interviewen. Danach erlebte ich ihn in Ingolstadt bei der Einspielung eines Konzerts mit Musik von Jenö Takacs (1902-2005) mit dem Georgischen Kammerorchester Ingolstadt. Auch hier zeigte sich das Orchester begeistert von seiner Art zu dirigieren, seinem persönlichen Engagement und von seinem Eingehen auf einzelne Musiker in den Proben. Sie gaben ihm nach Abschluss des Konzerts stehenden Applaus! Ich konnte das Interview nun in Sofia abschließen, wohin er von der Sofia Oper und Ballett zur Einstudierung und Premiere der bulgarischen Erstaufführung der „Elektra“ von Richard Strauss in der Inszenierung von Plamen Kartaloff, dem Generaldirektor des Hauses, eingeladen wurde.
In der Sache bestimmt!
1. Zur Pandemie
Zunächst drückt Evan-Alexis seine große Besorgnis darüber aus, wie sehr die Corona-Krise im Laufe des Jahres 2020 den Kunstsektor und besonders die Oper getroffen hat, und hier wiederum die freischaffenden Künstler. Oft müssen sich nun sogar fest engagierte Musiker im Orchester mit Kurzarbeit und einer halben Gage zufrieden geben. „Ich mache mir als Dirigent von Herzen Sorgen um die Orchesterlandschaft in Deutschland, die als Folge der möglicherweise noch anhaltenden Krise signifikant auseinanderfallen könnte.“ Und das hätte dann besonders starke Konsequenzen für die kleineren Operntheater. „Das Wichtigste ist für mich momentan, dass die symphonische Musik erhalten bleibt“ sagt er mit dem Brustton der Überzeugung eines Musikers, dem die Musik alles bedeutet. Und dazu hat Evan-Alexis Christ auch selbst schon einen Beitrag geleistet. Durch einen guten Kontakt zum Präsidenten der Humboldt-Universität Berlin gründete er vor kurzem das Mendelssohn Festival Orchester Berlin als Projektorchester, das eine Reihe von Projekten der Uni begleitet. „Und die Musiker werden bezahlt, was mir sehr wichtig ist.“ Man hat bereits den „Sommernachtstraum“ von Mendelssohn in Bearbeitung von Andreas N. Tarkmann aufgeführt.
Maestro in Aktion
2. Sein Werdegang, und wie es zum Dirigenten kam
Evan-Alexis Christ kommt aus eher sehr musikalischen Familie, geboren in Los Angeles und aufgewachsen in Las Vegas. Der Vater, Oboist und mittlerweile schon 83, hat über 50 Jahre die CD-Firma Crystal Records aufgebaut, die eine Nische des CD-Marktes bedient, für Blech- und Holzbläser, Solo-Kammermusik, mittlerweile über 200 CDs. Keine Opern und symphonische Musik, auch wenig Orchestermusik. Er führt diese Firma heute noch als Eigentümer und ist ihr Präsident. Die Mutter von Evan-Alexis, der übrigens am 24. Dezember zur Welt kam und „dazu noch mit dem Namen Christ“ wie er verschmitzt meint, war Konzertmeisterin des MGM Grand Celebrity Room Orchestra Las Vegas, einem der berühmtesten Hotels mitten auf dem Strip. Sie begleitete viele der klassischen Künstler wie das Rat Pack, Elvis, Liberace etc. Evan-Alexis entschied sich recht früh, dass er Dirigent werden wollte, obwohl der Anspruch bei solchen Eltern hoch und ihm durchaus als Herausforderung bewusst war, auch in finanzieller Hinsicht. Nicht zuletzt deshalb studierte er an der Harvard Universität neben Komposition auch Mathematik. Er war der Beste seines Jahrgangs. Nebenher nahm er immer privat Klavier- und Oboen-Unterricht, denn an Harvard lernt man kein Instrument an sich. Er spielte dennoch auch im Orchester als Solo-Oboist. Als Uni-Abschluss hatte er ein Stück komponiert und selbst dirigiert. Dirigieren studierte er allerdings später an der Hochschule für Musik und Theater in Leipzig, nachdem er eine Zeitlang mit einem Stipendium in Budapest verbracht hatte, um weiter Klavier und Gehörbildung zu studieren. Schon früh also manifestierte sich bei Evan-Alexis der Wunsch nach Internationalität.
Nachdenklich
3. Sein Credo der Musik
Folgendes kommt mit einer entwaffnenden Überzeugung: „Erst mal ist der musikalische Aufbau wichtig: Was sind die Unterschiede in der Reprise zur Exposition, spielen in der Reprise andere Instrumente bei denselben Tönen? Was bedeutet das, was waren die Beweggründe der Komponisten? War es Instinkt? Aber das macht die Musik aus! Und in der Oper: Haben die Instrumente eine symbolische Rolle? Wenn das Englischhorn spielt, eh selten genug, was hat das für eine Bedeutung? Was haben die Wagnertuben für eine Bedeutung in den Partituren Wagners, oder die Kontrabassposaune? Man muss diese Struktur studieren und verstehen, um die richtige Interpretation zu finden.“
Unternehmungslustig
4. Wie wurde es international?
Evan-Alexis hatte früh schon ein großes Organisationstalent, organisierte Konzerte des Bläserquintetts, in dem er Oboe spielte, aber auch Sporttreffen. Dann gründete er das Las Vegas Summer Orchestra und besorgte selbst auch die Sponsoren.
In seinem Leben hat er viermal etwas gegründet. Nach der Gründung des Las Vegas Summer Orchestra, der schwersten von allen, gründete er in Leipzig das Mendelssohn Kammerorchester mit Unterstützung der Musikhochschule, was es immer noch gibt, wenn auch in anderer Form. In Würzburg gründete er das Ensemble Apart am Main-Franken-Theater, um etwas andere Musik zu machen. Und nun eben das Mendelssohn Festival Orchester Berlin als Projektorchester.
Bei der Arbeit
Evan-Alexis kam relativ spät zu Oper. Nach einem kurzen Aufenthalt im Jahre 2003 als Studienleiter an der Oper in Portland assistierte erst mit Will Humburg bei „Macbeth“ von G. Verdi, als Humburg in Münster war, und dirigierte dort mit etwa 25 Jahren dann auch seine erste Oper. Am Mainfranken Theater Würzburg war er von 2003-2005 Erster Kapellmeister und kommissarischer GMD. Von 2005-2008 war er Erster Kapellmeister der Wuppertaler Bühnen. Von da an ging es kontinuierlich weiter mit der Karriere. In Cottbus als Generalmusikdirektor entwickelte er ab 2008 mit dem Orchester viele neue Stücke, unter anderem 60 Uraufführungen, und ging auch zum ersten Mal mit ihm auf internationale Tourneen. Dazu kam die Einstudierung aller Beethoven- und Mahler-Symphonien. Bisher hat Evan-Alexis über 50 Opern dirigiert.
Einige der Uraufführungen sind von Salvatore Sciarrino „Perturbazione nel settore trombe“; von Georg Katzer „An Louise“ (Maschinentanz); von Sydney Corbett „Among the Lemmings“; von Atli Ingolfsson „Mani“ und von Philippe Mansouri „Melancholie“ – Figuren mit Arditti Quartet. Einige wurden auch wieder aufgeführt, „Mani“ sogar in Island.
Und hier...
5. Seine weitere Tätigkeit als Dirigent
Evan-Alexis Christ hat international mit weit über 50 Orchestern und Opernhäusern gearbeitet. Trotz der Corona-Pandemie dirigierte Evan-Alexis Christ zu Anfang der Saison 2020/21 die 150. Saisoneröffnung mit den Zagreber Philharmonikern, das Georgische Kammerorchester Ingolstadt in einer Konzertserie inklusive CD-Einspielung, die NDR Radiophilharmonie für eine Filmproduktion und das Orchestra Classica da Madeira sowie die bulgarische Erstaufführung der „Elektra“ von Richard Strauss an der Sofia Oper und Ballett.
Frühere Engagements führten zu einer Zusammenarbeit mit dem hr-Sinfonieorchester Frankfurt/Main, dem Orchester der Deutschen Oper Berlin, dem Deutschen Sinfonie-Orchester Berlin, den Bremer Philharmonikern, der Nordwestdeutschen Philharmonie, dem Sinfonieorchester des Südwestrundfunks Stuttgart, der Anhaltischen Philharmonie Dessau, dem Israel Symphony Orchestra Rishon LeZion Tel Aviv, dem Orchestre Symphonique du Mulhouse und dem Orchestre Philharmonique du Luxembourg. Er gastierte auch am Aalto Theater Essen, an den Staatstheatern Wiesbaden, Hannover und Kassel, am Theater Bonn, am Nationaltheater Mannheim und am Theater St. Gallen und wirkte beim Immling Festival mit. Bei den Salzburger Festspielen gab er 2011 sein Debut am Pult des Klangforum Wien mit Salvatore Sciarrinos Oper „Macbeth“. Sein umfassendes Opernrepertoire reicht von allen großen Opern Mozarts über G. Verdi, R. Wagner, R. Strauss und Puccini bis zur zeitgenössischen Oper.
6. Seine Meinung zu Richard Wagner und Erfahrung mit dem Komponisten
„Meine erste Berührung mit dem ,Ring‘ von Richard Wagner war mit 20 Jah- ren 1991 an der Seattle Opera. An drei Tagen fuhr ich mit meiner Stiefmutter 1 1⁄2 Stunden hin und 1 1⁄2 Stunden zurück nach Seattle, um ,Die Walküre‘, dann ,Siegfried‘ und schließlich ,Götterdämmerung‘ zu erleben“ erinnert er sich noch ganz genau. Sie war ein großer Wagner-Fan und kannte sich schon sehr gut aus. „Wir haben die gesamten Autofahrten benutzt, um über die Opern zu sprechen. Sie hat mir alles erzählt, natürlich reichte die Zeit nicht im Geringsten, aber es war für mich trotzdem ein wunderbarer Anfang. Ich hatte die jeweiligen Libretti am Haus dann gekauft und mehrmals durchgelesen, auf Englisch, denn damals könnte ich noch nicht Deutsch.“ Es gab damals ein Interview mit dem Dirigenten Hermann Michael im Radio. Er erzählte, wie er die Partituren einrichtete – mit Farben für die verschiedenen Motive usw. Evan-Alexis war sehr fasziniert und hätte nie gedacht, dass er selbst eines Tages den kompletten „Ring“ dirigieren würde – in Deutschland! Er wollte aber schon mehr hören und fuhr 1992 von Boston (Harvard Universität) nach New York, um „Das Rheingold“ und „Die Walküre“ an der Metropolitan Opera unter James Levine zu sehen/hören. „Es war fantastisch, wie es gemacht wurde!“ ruft er aus!
Es gibt ein paar Komponisten, für die man eine gewisse Reife braucht, um sie zu dirigieren, meint Evan-Alexis. Johannes Brahms gehört dazu, Richard Wagner auch. Sein erster Wagner war das Jugendwerk „Die Feen“ (komponiert in Würzburg). Er hat die Würzburger Erstaufführung 2005 mit sehr guten Rezensionen dirigiert. Und als er den GMD-Posten in Cottbus angeboten bekam, war ihm ein „Ring“ so wichtig, dass er darauf bestand, die Cottbuser „Ring“-Produktion mit in seinen Vertrag zu schreiben. „Die Walküre“ war somit seine erste Produktion überhaupt in Cottbus, mit um die 23 Orchesterproben. „Aber es hat sich sehr gelohnt! Dieser ,Ring‘ klang am Ende wie die besten Aufnahmen am Markt. Es war ein sehr großes Erlebnis!“
'Beim Schlussapplaus der "Elektra" in Sofia
7. Wie war seine Erfahrung mit der bulgarischen Erstaufführung der „Elektra“ an Sofia Oper?
Was nun kommt, ist so eindrucksvoll, dass ich es im O-Ton belassen möchte.
„Es ist mir ein großes Vergnügen, die bulgarische Erstaufführung von Richard Strauss’ „Elektra“ mit der Sofia Opera einzustudieren. Das ist eines der größten Opern-Meisterwerke aller Zeiten und ein Leuchtturm des Deutschen Repertoires. Strauss macht Modernismus auf einer neuen Ebene, er benutzt Kontrapunkt und Bitonalität auf höchstem Niveau. Technisch ist es eine der schwersten Opern zu meistern, die Orchestermusiker und Sänger hier in Sofia sind sehr engagiert. Es hat eine große Freude gemacht, die intensiven und hoch- konzentrierten Proben zu leiten.
Maestro Plamen Kartaloff hat eine historische und wunderbare Regie geführt, und die schon beeindruckende Geschichte wird so noch stärker gemacht. Es ist ein Privileg, gerade in diesen schwierigen Zeiten, die Möglichkeit zu haben, ein solch grandioses Projekt zu stemmen. Wir waren die ganze Zeit auf Distanz (auch das keine leichte Übung!) und haben alles getan, um gesund zu bleiben. Und am Ende war es möglich, etwa 200 Menschen pro Aufführung im Publikum zu inspirieren.
Es gibt in Sofia einen mystischen Geist, reich an Kultur. Man kann diese Energie durch die Musiker spüren und das ist sehr belebend.“
8. Was sind seine weiteren Pläne?
Die nächsten Engagements 2021 sind Sinfonie-Konzerte mit den Nürnberger Symphonikern und den Sarajevo Philharmonikern, ein Konzert im Concertgebouw Amsterdam mit den Duisburger Philharmonikern, eine CD-Produktion für Sony Classical mit dem Madeira Classical Orchestra, und Wiedereinladungen zu Operneinstudierungen bei der Sofia Opera und Ballett sowie dem Immling Festival.
Fotos: Walter Schönenbröcher 1-2, 4-7; Peter Adamik 3; K. Billand 8
Klaus Billand
PS
Am Ende kommen wir noch zu Evan Christs Wurzeln, und die sind interessant, am besten aus seiner eigenen Feder:
„Beide Eltern sind in den USA geboren, ABER: Der Vater ist 100 Prozent griechischer Wurzeln und die Mutter hat europäische und amerikanisch-indianische Wurzeln.“
Und hier noch ein paar interessante Eindrücke und Erinnerungen:
„In Europa werde ich öfters gefragt wegen meiner Jugendzeit in Las Vegas. Es ist eigentlich eine ziemlich normale Stadt, wir werden alle nicht im Casino groß. Aber es gibt vielleicht doch ein paar Anekdoten. Zum Beispiel, ich habe um die Ecke von den Magiern Siegfried und Roy gewohnt. Zweimal am Tag, als die Tiger und Löwen gefressen haben, konnte man das Knurren hören. Später habe ich Siegfried persönlich kennengelernt in einem Konzert mit der Las Vegas Philharmonic in Zusammenhang mit dem C. F. Holtmann-Stipendium. Der liebt klassische Musik, und wir haben einen deutschen Künstler, Tobias Feldmann, mit nach Las Vegas gebracht, um das Beethoven Violin-Konzert zu spielen.
Den Magiern Penn und Teller durfte ich einen Sommer lang Musikunterricht geben. Sie wollten es einbauen in ihre Show. Daraufhin habe ich Teller gebeten, eine neue Text-Fassung für Benjamin Brittens ,Young Person’s Guide to the Orchestra‘ zu schreiben. Das hieß ,Joey and the case of the purloined Piano’ und war unglaublich lustig. Teller hat bei der Uraufführung als Erzähler gewirkt.
Mit 19 habe ich jeden Tag beim Boys and Girls Club mit Kindern gearbeitet, um das Las Vegas Summer Orchestra zu finanzieren. Einmal pro Woche gab es eine Probe, am Anfang hatten wir öfters nicht die richtige Besetzung: Vielleicht sieben Flöten und
keine Bratschen usw. Aber wir hatten Spaß, und am Ende haben wir ein Konzert mit der 7. Sinfonie von Beethoven gegeben. Alle waren damals sehr begeistert, weil es in der Zeit überhaupt ganz wenig klassische Musik in der Stadt gab.
Ich bin gern in Las Vegas gewesen, man brauchte nie eine Winterjacke. In meiner Freizeit habe ich Baseball gespielt, später Ultimate Frisbee und bin viel wandern gegangen in der unglaublichen Landschaft. Damals gab es auch wunderbare und sehr günstige Essens-Angebote: Zum Beispiel ein Spitzen-Steak and Eggs für US$2.99.“