Oberammergau: Passionsspiele 2022 - 31. Mai 2022
Künstlerisch immer wertvoller und politisch relevant
Der Passionsspiel-Poster
Nach zwei Jahren Wartezeit und sechs Monaten intensiver Proben erlebten am 14. Mai die 42. Passionsspiele Oberammergau endlich ihre Premiere. Die Pandemie hatte zur Verschiebung gezwungen. Die Passionsspiele Oberammergau werden immer alle 10 Jahre abgehalten. Christian Stückl, selbst gebürtiger Oberammergauer, ist auch dieses Jahr wieder Spielleiter, eine Funktion, die er schon seit dem Spielen 1990 bekleidet, damit nun zum vierten Mal. Somit ist er fast schon zur fixen Größe dieses kulturellen Mega-Events im kleinen oberbayerischen Oberammergau geworden. Ebenso zeichnet der Musikalische Leiter der Passionsspiele, Markus Zwink, seit 1990 und auch bei diesen Spielen für das musikalische Programm verantwortlich. Neben den großen Figuren Jesus, Maria, Petrus, Judas, Pontius Pilatus und Kaiphas gibt es 120 größere und kleinere Sprechrollen.
Das Passionsspielhaus
Insgesamt wirken rund 1.800 Oberammergauer am Passionsspiel mit. Wegen der Verschiebung mussten 300 Mitwirkende aussteigen, denn sie konnten sich nicht einen weiteren Sommer für das Passionsspiel freinehmen. Aber die 1.400 verbliebenen Darsteller und 400 Kinder waren umso motivierter, was man bei der Aufführung am 31. Mai, also zwei Wochen nach der Premiere, auch feststellen konnte, insbesondere wenn man in Rechnung stellt, dass es sich ausschließlich um Laien-Darsteller handelt. Es wurde mit einer unglaublichen Hingabe und Intensität das Leiden Jesu Christi in Szene gesetzt. So viel schon jetzt, aber dazu gleich mehr. Auch das Publikumsinteresse ist trotz immer noch herrschender Corona-Vorsichtsmaßnahmen immer noch ungebrochen. Zu den Hauptmärkten zählen weiterhin die USA, die rund ein Drittel (!) der derzeit verkauften Tickets ausmachen, sowie Großbritannien und Skandinavien.
Die Bühne
Zur Geschichte. Vor fast 400 Jahren befand sich Oberammergau inmitten der Wirren des Dreißigjährigen Krieges. Es herrschte Hunger, der „Schwarze Tod“ ging um. Nach einer alten Legende brachte 1632 ein Mann namens Kaspar Schisler die Pest ins Dorf, die binnen weniger Tage 80 Tote forderte. Aufgrund lückenhafter Aufzeichnungen und Nichtzählen der Kinder lag die Dunkelziffer sicher viel höher. In der Not kamen die Oberammergauer zusammen und legten das Gelöbnis ab, alle zehn Jahre das „Spiel vom Leiden, Sterben und Auferstehen unseres Herrn Jesus Christus“ aufzuführen.
Säuberung des Tempels
Die katholische Kirche, die das Land mit den Klöstern Ettal, Rottenbuch, Steingaden und Polling damals fest im Griff hatte, spielte dabei eine wesentliche Rolle, denn sie prägte das Denken der Menschen. Es herrschte Angst, Gott wurde als zorniger alter Mann gepredigt, der die Menschen für ihre Sünden bestraft, wie Christian Stückl ausführt. Viren und Bakterien waren noch nicht bekannt, sodass die tödliche Krankheit als Strafe Gottes gewertet wurde. Die Leidensgeschichte Jesu Christi galt vielen als Heilmittel, und so entstanden überall in Bayern Passionsspiele, bis zu 400! – um die Pest zu vertreiben. Natürlich hat man heute ein ganz anderes Bild von Gott und ist zur Überzeugung gelangt, dass die Menschheit selbst für Leid und Not in der Welt verantwortlich ist.
Frank Mayet als Jesus
Während die meisten Passionsspiele wieder verschwunden sind, hat sich in Oberammergau die Tradition bewahrt, über mittlerweile fast 400 Jahre! Heute sind die Oberammergauer Passionsspiele viel inklusiver. Man muss nicht mehr Mitglied einer der beiden großen Kirchen sein, und auch muslimische Oberammergauer und andere können mitmachen. Dabei haben die Spiele gerade in diesem Jahr mit dem Krieg in der Ukraine, dem damit verbundenen Leid und der Flucht vieler Menschen eine traurige aktuelle Relevanz erhalten. Gleich zu Beginn tritt ein Bursche nach vorn und erzählt mit ein paar Sätzen, wie es zum Passionsspiel kam, endend mit den Worten: „Seit der Zeit ist kein Mensch mehr gestorben.“
Lebendes Bild: Vertreibung aus dem Paradies
Für die Spiele 2022 hat man die Bühne des Passionsspieltheaters, wie sie vom Architekten Raimund Lang für das Passionsspiel 1930 entworfen wurde und die auf den Elementen des antiken griechischen Theaters basierte, im Sinne einer moderneren Theaterauffassung umgestaltet. Die gesamte Bühne wurde in einen einzigen Ort „Die Tempelanlage von Jerusalem“ verwandelt. Es entstand der Entwurf einer dystopischen Tempelanlage, die das religiöse und politische Zentrum eines urbanen Jerusalems darstellt.
Lebendes Bild: Durchzug durch das Rote Meer
Dabei gibt es drei klar zu unterscheidende szenische Komplexe, die in ihrer Kombination eine interessante und abwechslungsreiche Dramaturgie ergeben und das immerhin fünfeinhalb Stunden lange Stück lebendig halten. Und zwar den Chor, auch mit Solisten; die Spielszenen, in denen das Volk und die Protagonisten des Passionsspiels auftreten, mit den entsprechenden Kostümbildern; sowie die Tableaux vivants, die „Lebenden Bilder“. Stefan Hageneier ist für Bühne und Kostüme verantwortlich, die der damaligen Zeit in Galiläa nachempfunden sind und für die teilweise edle Stoffe für die stehenden Figuren in den „Lebenden Bildern“, aber auch einfaches Material für das einfache Volk verarbeitet wurden.
Festsetzung des Judas
Die Musik spielt eine große Rolle und erklingt fast über ein Drittel der gesamten Spielzeit aus dem großen Orchestergraben. Sie ist also annähernd so lang wie ein eigenständiges Oratorium. Solisten und Chor vermitteln Inhalte des Alten Testaments und stellen Bezüge zur Leidensgeschichte Jesu Christi dar. Zwischen den Chorsängern und den Volksszenen, in denen die Handlung in der bekannten Art und Weise vorangetrieben wird, liegen die mystisch wirkenden Tableaux vivants oder „Lebenden Bilder“. Es sind Rückblenden auf das biblische Geschehen von großer Phantasie und ornamentaler Pracht, die eine ganz eigene Ästhetik und Mystik erzeugen, zumal mit der dazu erklingenden Musik. Sie werden von total still stehenden Akteuren gebildet. Mal ist es „Der Engel in Hiobs zerstörtem Wohnhaus“, dann „Moses und das Goldene Kalb“, „Die Erniedrigung der Israeliten“ oder „Der brennende Dornbusch“. Mit ihrer Gestaltung zeigt sich auch eine beachtliche künstlerische Komponente der Passionsspiele, auf die im Vergleich zu früheren Ausgaben offenbar immer mehr Wert gelegt wird.
Die Dornenkrone für Jesus
Die aktuelle Musik geht auf Kompositionen des Oberammergauer Lehrers und Komponisten Rochus Dedler für die Passionsjahre 1811, 1815 und 1820 zurück, wurde aber im Verlauf der letzten 200 Jahre immer wieder verändert. In den letzten 30 Jahren kamen noch wesentliche Neukompositionen hinzu. Die Passionsspiel-Musik hat etwas Balsamisch-beruhigendes.
Jesus stürzt unter dem Kreuz
Leider war der Bass-Solist Heino Buchwieser an diesem Tag nicht in bester Form und präsentierte such mit einer recht steifen, facettenarmen Stimme. Seine Sache schon besser machte der Tenor-Solist Michael Etzel, während die Sopran-Solistin Dominika Breidenbach und die Alt-Solistin Monika Gallist schon relativ anspruchsvollen gesanglichen Anforderungen entsprachen und den Auftritt des Chores veredelten. Man bedenke, auch die Sänger-Solisten kommen alle aus Oberammergau.
Auf Golgatha
Frederik Mayet, übrigens auch Pressesprecher der Passionsspiele 2022, gab eine eindrucksvolle Charakterstudie des jung wirkenden Jesus, die wie die gesamte Handlung in eine bisweilen erschreckend realistische Dramaturgie eingebettet war. Andrea Hecht spielte eine emphatische Maria und Sophie Schuster eine engagierte Magdalena. Martin Güntner als Petrus blieb etwas blass. Cengiz Görür war ein Judas, der einnehmend durch alle Phasen seines grauenvollen Schicksals ging. Eine gute Personenregie führte zu einem hohen Maß an Authentizität der Massenszenen, aber auch der Gespräche unter den einzelnen Gruppen, insbesondere derjenigen, die Jesus zur Anklage bringen wollten. Dabei spielten Andreas Richter als Kaiphas, Walter Fischer als Annas, aber auf eine ganz friedvolle Art auch Christian Biering als Joseph von Arimatäa oder Hubert Schmied als Simon von Bethanien herausragende Rollen.
Maria bei der Abnahme des Leichnams
Die Szenen mit Pontius Pilatis, der sehr dynamisch exekutiv von Carsten Lück verkörpert wurde, gehörten zu den theatralischen Höhepunkten der Aufführung. Selbst Longinus in der Person von Ferdinand Meiler kam gebührend zur Wirkung. Allerdings fehlte der Gral, als er seine Lanze in die Seite Jesu Christi stieß. Beeindruckend auch die Aktionen der beiden Mitgekreuzigten. Das hatte alles einen hohen Grad an Realität und ging bisweilen unter die Haut. Es wurde im Verlauf dieses Nachmittags und Abends klar, warum die Passionsspiele Oberammergau weiterhin diese hohe, auch weit über Deutschland hinausgehende Anziehungskraft haben und auch behalten werden. Man konnte viel zum Nachdenken mit nach Hause nehmen….
Fotos: Arno Declair 4-5, 8-12; Birgit Gutjonsdottir 3, 6-7; K. Billand 1-2
Klaus Billand