Warum Joachim Löw nun gehen sollte… 20. November 2020

Das Spiel ist aus!

König Fußball

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Das 0:6 in Sevilla gegen Spanien in der UEFA Nations League (ebenfalls mit vielen jungen Spielern) am 17.11., das auch leicht ein 1:8 hätte sein können, also mit einer Mannschaft, mit der die deutsche Fußballnationalmannschaft sich im Prinzip auf Augenhöhe wähnt(e), ist die m.E. finale Zäsur im Wirken Joachim Löws als Bundestrainer nach dem deutschen WM-Titel in Rio de Janeiro 2014. Nach einem solchen Titel tritt man normalerweise (auf der Höhe des Ruhmes) zurück, wie es Franz Beckenbauer 1990 nach dem WM-Titel in Rom umgehend tat. Oder man legt ein überzeugendes Konzept für einen Neustart im Hinblick auf die nächste EM und WM vor, das dann aber ziehen sollte, eigentlich ziehen muss. Und dazu muss man nun etwas detaillierter in die Geschichte zurückgehen.

Nach Rio wurde gesagt, dass Löw noch keine EM gewonnen hatte, und nach der WM sollte dieser Titel schließlich doch auch noch erreicht werden. Warum Löw noch keine EM gewonnen hatte, geriet dabei aber in völlige Vergessenheit. Denn bei der EM in Polen 2012 verspielte er durch eine nicht nachvollziehbare Umbesetzung der erfolgreichen Mannschaft des Viertelfinales (Herausnahme der gegen Griechenland sehr guten Klose, Reus und Schürrle) das Halbfinale. Er verlor prompt 1:2 durch Tore des bis dahin nicht allzu bekannten Balotelli, sodass alle Beobachter konsterniert waren. Diese unerklärliche Umbesetzung – gegen den klassischen und gerade im Fußball bewährten Spruch „Never change a winning team“ – war damals jedoch ein großes Thema in den Medien. Aber man vergisst ja schnell, und der WM-Titel machte alles wieder gut. Obwohl auch hier vergessen wird, dass auch in Brasilien erhebliches Glück im wahrsten Sinne des Wortes im Spiel war. Hätte Manuel Neuer dank seiner Mittelfeldausflüge beim grenzwertigen 2:2-Auftritt gegen Algerien nicht den Kasten sauber gehalten, und wäre der Argentinier Di María im Finale nicht verletzt gewesen, dann hätte Deutschland es erst gar nicht erreicht bzw. sondern – sich ohnehin gegen Argentinien schwertuend – verloren. Messi fehlte Di María hinten und vorne. Auch das 1:0 gegen Frankeich in Rio war schon glücklich.

Dennoch ließ sich mit dem Schwung der Weltmeister von 2014 im Jahre 2016 eine prinzipiell gute EM in Frankreich spielen, mit viel Glück allerdings beim 18. (!) Elfer im Elfmeterschießen im Viertelfinale gegen „Angstgegner“ Italien. Gegen die Franzosen war im Halbfinale Schluss, immerhin beides Mannschaften, die man in den großen Zeiten der Nationalmannschaft auch schon überzeugender schlagen konnte. Das kommende Desaster der WM 2018 in Russland deutete sich da schon an, obwohl die Tatsache, dass man als einzige Mannschaft Europas die WM-Qualifikation mit zehn Siegen und einem Rekord-Torergebnis abgeschlossen hatte, die Sicht auf die Realitäten vernebelte. Denn von den titelverdächtigen Mannschaften hatte Deutschland bei der WM-Quali 2018 die leichteste Gruppe.

Ähnlich ist auch das bis vor der Spanien-Pleite seltsamerweise wieder gestiegene Selbstwertgefühl durch weitgehend irrelevante – da zu leichte – Siege gegen die im 2. Spiel Corona-geschwächte Ukraine (beim 2:1 in der Ukraine servierte der ukrainische Torwart Goretzka den nicht festgehaltenen Ball praktisch auf den Kopf, von wo er zum Siegtor niederfiel), als Vernebelung der Realität zu sehen. Dazu ein mageres 1:0 – aber eben ein Sieg – im unnötigen Freundschaftsspiel gegen Tschechien und zwei Unentschieden, sodass schon von einem möglichen Gruppensieg in der Nations League gegen Spanien (die ja immerhin von der Ukraine geschlagen wurden) bei einem Unentschieden philosophiert wurde, dass das Fußballjahr 2020 trotz aller Widrigkeiten doch noch ganz gut gelaufen wäre…

Dann kam aber mit Spanien – Gott sei Dank! – die Realität knallhart zurück, die auch wundern ließ, dass man etwa sechs Spiele vor der EM noch mit einer B-Mannschaft gegen Tschechien antrat, um weiter „auszuprobieren“. Dabei hat Löw es Corona zu verdanken, dass er überhaupt noch probieren konnte.

Und er hat es auch der UEFA zu verdanken, dass sie die zweite Auflage der 2018/19 erstmalig ausgetragenen Nations League aufstockte. Denn Deutschland wäre nach der verpatzten Erstauflage abgestiegen. In ihrer Gruppe musste sich die Nationalmannschaft nämlich zum ersten Mal seit langem von September bis November 2018 mit wirklich starken Gegnern wie Frankreich und Nierlande messen und kam in vier Spielen nur auf zwei Punkte! Man sollte auch nicht vergessen, dass Löw das Ausnahmetalent Leroy Sané bei der EM 2016 im verlorengegangenen Halbfinale gegen Frankreich erst nach dem 0:2 einsetzte und ihn bei der WM 2018 gar nicht erst in den Kader berufen hat. Nicht nachvollziehbare Fehbesetzungen, und weitere dieser Art wären leicht aufzuführen, sind ein Kardinalfehler von Joachim Löw, auf deren Kritik er dann meist auch noch mit einer gewissen Beratungsresistenz, um nicht zu sagen Arroganz reagiert.

Nun sind wir aber wieder vor der EM am nicht zu weiten Horizont Juni 2021 und stellen fest, dass das Projekt einer neuen Mannschaft nach 2018 für die EM 21, so gut viele Namen auch klingen und fußballerisch auch sind, gescheitert ist. Nun sind Spieler mit Engagement, Feuer, Kampfes- und Siegeswille sowie einem mannschaftlichen Zusammenhalt, besser noch einer mannschaftlichen Geschlossenheit, gefragt – das alles war gegen Spanien nicht zu sehen. Und dafür ist allein der Bundestrainer schuld, der sich dieses Projekt mit den jungen Spielern auserbeten hat und dafür nach 2018 drei erfahrene Spieler aus der Mannschaft verbannt hat. Von diesen haben zwei noch in diesem Jahr 2020, als es mit der Nationalmannschaft hinten und vorne (vor allem hinten) nicht stimmte, das Triple mit Bayern München gewonnen. Sie gehören der momentan besten Mannschaft Europas an und werden dort auch laufend eingesetzt.

Deutschland hat immer dann eine WM gewonnen, wenn auch geachtete Spielerpersönlichkeiten auf dem Platz standen, und damit meine ich, auf dem Platz und nicht im Tor! Man denke an die großen, erfahrenen Spieler 1954, 1974, 1990 und 2014 – es fällt nicht schwer, einige Namen zu nennen. Fritz Walter, Max Morlock, Horst Eckel, Helmut Rahn 1954; Franz Beckenbauer, Uli Hoeneß, Günther Netzer, Wolfgang Overrath 1974; Lothar Matthäus, Jürgen Klinsmann, Rudi Völler 1990; und Philipp Lahm, Miroslav Klose, Bastian Schweinsteiger, Mats Hummels 2014. In der heutigen Nationalmannschaft gibt es nur eine solche Spielerpersönlichkeit, Manuel Neuer. Toni Kroos als zweiter Weltmeister im Team konnte bisher leider nicht diesem Anspruch gerecht werden. Nur Manuel Neuer steht als verdienter Kapitän im Tor. Wenn Not am Mann ist wie gegen Spanien, dann wäre es immer besser, den Kapitän im Feld zu haben, wo er direkt mit den – oft jüngeren – Spielern kommunizieren kann. Dass das gut funktioniert und der Trainer in solchen Situationen auch in der Coaching Zone kaum noch eine Rolle spielt, haben viele deutsche Feld-Kapitäne bei internationalen Tournieren seit den 1950er Jahren bewiesen. Und ein solcher Mann hatte gegen Spanien sehr gefehlt, zumal Löw versteinert auf seinem Sessel saß, während sein Kollege auch bei 4:0 noch lebhaft viele Anweisungen gab.

Da nur noch fünf Spiele bis zur EM bleiben, müssen solche Spielerpersönlichkeiten nun von außen her, denn aus dem Löw-Pool werden sie nicht mehr kommen können. Also spricht alles dafür, Thomas Müller und auch Mats Hummels sowie Jerome Boateng für die gerade so unerfahrenen und viel zu jungen Abwehrspieler in den Kader zurück zu holen, der in sechs Spielen 13 Gegentore zuließ.

Das wird aber mit Joachim Löw nicht zu machen sein, und deshalb muss diese Lösung, die vor allem auf einen Übergang bis zur EM abzielt und sich nicht mehr groß mit der Bildung einer neuen jungen Mannschaft befassen kann, ohne ihn stattfinden müssen, ob der konservative und auch nicht gerade durch gute Presse in den letzten Jahren aufgefallene DFB das so will oder nicht. Es gilt nun zu retten, was noch zu retten ist. Während man Jürgen Klopp für die Zeit nach der EM als Bundestrainer ins Auge fassen kann, falls er überhaupt Interesse hat, denn Hansi Flick wird Bayern München sicher nicht verlassen wollen, wäre Ralf Raganik für diese Übergangsperiode ein guter und offenbar auch interessierter Kandidat. Auch der Trainer der U-21 böte sich an. Sie könnten frisch und unbelastet von den Entscheidungen des Vorgängers an die Sache herangehen und bis Juni noch eine schlagkräftige Truppe mit den älteren erfahrenen Spielern und den jüngeren Hoffnungsträgern zusammenfügen, die mit einem neuen Motivationsschub eine gute Figur bei der EM macht. Nicht zuletzt sind Sané, Gnabry, Werner, Goretzka, Gündogan, ganz abgesehen von Neuer und Kroos, Spieler, die der Weltklasse angehören, aber dennoch nicht das Debakel verhindern konnten. Ein – guter – Torschuss im ganzen Spiel! Der große Sportsmann Manuel Neuer sollte dann großzügig auf die Kapitänsbinde verzichten und sie wohl dem charismatischen und von den jüngeren Spieler sicher anerkannten Thomas Müller überlassen, der dann im Feld besser führen kann, wie oben ausgeführt. Jetzt geht es nur noch darum, zu retten, was zu retten ist. Ein weiteres „Ausprobieren“ verbietet sich von selbst bei nur noch fünf Spielen bis zur EM! Das Spielermaterial dazu ist im Prinzip vorhanden.

Wenn man die Körpersprache Löws besonders in der zweiten Halbzeit gegen Spanien und in den Interviews danach gesehen hat, kann man nur zum Schluss kommen, auch ohne seine Resistenz gegenüber dem Thema „Müller, Boateng und Hummels“ ins Feld zu führen, dass er das nicht mehr kann und auch nicht mehr die nötige mentale Kraft für den Kraftakt EM 2021 mit Frankreich und Portugal hat, also Welt- und Europameister schon in der Vorrunde! Ebenso erschütternd waren die leblosen Abgänge der ausgewechselten Spieler auf die Sitzreihen. In der zweiten Halbzeit stellte sich bei mir sogar manchmal der fürchterliche Verdacht ein, dass sie mit ihrem Verhalten, auch dem auf dem Platz, eine Ablehnung des Trainers andeuten wollten. Dieses Phänomen ist im Fußball bisweilen schon beobachtet worden, wenn es zwischen Mannschaft und Trainer nicht mehr stimmt – eine Form von Zerrüttung.

Dass der DFB nahezu gebetsmühlenartig noch in der Nacht betonte, zu Löw zu stehen, kann nur damit begründet werden, dass man nun in Ruhe im Winter das Feld der Alternativen sondieren will und bei Verhandlungen mit einem Neuen in einer besseren Position ist. Die an Nibelungentreue erinnernde Haltung von Oliver Bierhoff legt allerdings Überlegungen nahe, auch ihn im Rahmen dieses Revirements auszutauschen. Muss der Manager der Nationalmannschaft, auch wenn er mittlerweile beim DFB die Funktion des Direktors Nationalmannschaften und Fußballentwicklung ausübt, unbedingt entscheiden, wer Bundestrainer ist?! Frischer Wind täte mittlerweile auch auf diesem Posten, bzw. von diesem Posten aus gut. Wenn der DFB nun mit Löw so weitermachen will wie bisher, ist ein neues Debakel in der Vorrunde der EM 21 mit Frankreich und Portugal programmiert. Dann werden wohl alle Herren den Hut nehmen müssen, und es wird eine dann in jedem Falle notwendige Palastrevolution stattfinden. Sie sollten im Namen des deutschen Fußballs alles dafür tun, dass es nicht so weit kommt.

Klaus Billand