Wien/Staatsoper: Kontrapunkte - Jugend und Klassische Musik - Juni 2018
Gar nicht so kontrapunktisch…
Im Gustav Mahler Saal
Im Rahmen der Serie „Kontrapunkte“ fand im Gustav Mahler-Saal der Wiener Staatsoper eine Gesprächsmatinee von und mit Prof. Dr. Clemens Hellsberg zu diesem Thema statt. Gäste waren Martin Grubinger und Dr. Andreas Mailath-Pokorny. Hellsberg war zuletzt von 1997 bis 2014 Vorstand der Wiener Philharmoniker und ist Autor des Buches „Demokratie der Könige“ sowie weiterer Publikationen und auch Vortragender. Grubinger ist vielleicht einer der besten Multipercussionisten der Welt. Sein Repertoire reicht von solistischen Werken über kammermusikalische Programme mit seinem Percussive Planet Ensemble bis hin zu Solokonzerten. Er hat sich auch dafür eingesetzt, das Schlagwerk als Soloinstrument in den Mittelpunkt des klassischen Musikbetriebs zu stellen und auch eine Reihe internationaler Preise erworben. Mailath-Pokorny war 2001-2018 Stadtrat für Kultur, Wissenschaft & Sport der Stadt Wien. Nach einem Studium in Wien und Bologna arbeitete er im Diplomatischen Dienst und später im Völkerrechtssbüro und war Mitglied der KSZE-Delegation. Er arbeitete im Kabinett von Bundeskanzler Dr. Franz Vranitzky und war später Leiter der Sektion für Kunstangelegenheiten im Bundeskanzleramt.
Zu Beginn unterstrich Clemens Hellsberg (H), dass uns alle diese Frage beschäftigen sollte, und für ihn ist sie heute noch relevanter als früher. Denn in Wien erhält mehr als die Hälfte der Kinder keine deutschsprachige Erziehung. Was bedeutet musikalische Erziehung vor diesem Hintergrund? Mailath-Pokorny (MP) führte dazu aus, dass die musikalische Erziehung bei ihm schon mit Klavierspielen mit sieben Jahren begonnen habe, er sie aber zugunsten sportlicher Aktivitäten abgerochen habe, was er heute bereut. Er meinte, neben der musikalischen Erziehung – seine Frau spielt auch Klavier – sollte die soziale Komponente mit einbezogen werden. Das Angebot in Wien ist ja vorhanden. Die wesentliche Frage ist: wie kann man den Zugang zu diesem Angebot schaffen?
Martin Grubinger (G) ist ein gutes Beispiel dafür. Er meinte, man muss etwas schaffen, dass sicher stellt, dass die Kinder und Jugendlichen dabei bleiben. Das hat mit Geerdetsein und Enthusiasmus zu tun. Ohne viel „Drumherum“ sollte man gleich einsteigen, sodass sie „hinein gezogen“ werden. Und dann kam G auf Österreich, speziell auf sein Bundesland Oberösterreich zu sprechen. Hier gibt es ein einzigartiges Musikschulsystem inkl. musikalischer Früherziehung bis hin zum Tanztheater. So kann man dort sehr früh mit klassischer Musik in Kontakt kommen. Es gibt auch deshalb in Oberösterreich eine große Tradition in der Blasmusik. Viele Familien haben dazu einen Bezugspunkt, ja, Blasmusik zu machen kommt fast einem Kult gleich. Die Musik ist „greifbar“. G meint, man sollte dieses Modell auf ganz Österreich übertragen. „Aber wir gehen mit der Thematik zu fahrlässig um, und wer keinen musikalischen familiären Hintergrund hat, hat keine Chance“. Deshalb fordert G eine „Musikrevolution in Österreich“. Es hängt auch sehr viel von den Kindergärten und dem dortigen Betreuungspersonal ab. Es sollte nicht nur technisch, sondern auch so vorbereitet wenden, dass es die mit der Musik verbundenen Emotionen vermitteln kann.
Clemens Hellsberg, Moderator
H fügte hinzu, dass man auch die Grundschulen mit einbeziehen muss. In diesen sollte auch gesungen werden. Das ist „wahnsinnig wichtig“. Er wies auf ein Gesetz in Oberösterreich hin, das erst die von G angesprochene Politik ermöglichte.
MP meinte, dass die Grundschulen in Wien in dieser Hinsicht besser sein könnten und erwähnte, dass mittlerweile sog. Campusschulen entstehen, wo die Kinder bis 15/16 Uhr bleiben. In diesen neuen Schulen sollte man ein entsprechendes Angebot zum Musiklernen machen. Aber: „Die Reduktion der musikalischen Fächer ist bemerkenswert. Musik wird eher so nebenbei gemacht.“ So müsste auch die eigene Kreativität gefördert werden. Man muss sich aber dazu bekennen, es zu tun. Da fehlt das Bekenntnis der Gesellschaft. Eltern sollten auf mehr musikalischen Unterricht pochen. Es müssen damit Freude vermittelt und Neugierde geweckt werden.
G unterstreicht die entscheidende Bedeutung der Kreativität. Wie kann man die Welt verändern? Dazu sind eben nicht nur die klassischen Unterrichtsfächer geeignet. Man muss dazu an die Pädagogen herangehen, am besten mit einem „Masterplan für Musik“, und den flächendeckend für ganz Österreich.
MP hebt die Bedeutung von mehr Proberäumen und -möglichkeiten hervor. Auch das kann bei der notwendigen Förderung der (musikalischen) Kreativität helfen. Stattdessen geht die Mathematik weit vor der Musik als Unterrichtsfach. Fällt man in Mathe durch, ist es ernst, fällt man in Musik durch, ist es egal… (Das war schon zu meiner Schulzeit so!).
MP: Das ist alles auch keine Frage des Geldes und der Aufmachung, sondern des Wissens. Zum Beispiel gab es einen großen musikalischen Event im Wiener Schöpfwerk, auch einen in Ottakring. Dort machten Kinder mit. So sollten auch die Wiener Musikschulen dorthin kommen. Es gibt ja in Wien ein großes Angebot, auch in vielfältiger Form. Aber die Leute müssen es wissen!
G: Man muss aber auch die Sensorik dafür haben. Um das zu bewerkstelligen, sollte der Musiklehrer die Musikmacher kontaktieren. Was aber ist mit den vielen tausend Schülerinnen und Schülern, die gar nicht erst zur klassischen Musik kommen?! Die keinen entsprechenden familiären Background haben. „Wir verlieren eine ganze Generation, die mit Kunst und Kultur nicht und Berührung kommt.“ warnt G. Früher gab es einmal die sog. Arbeiterkonzerte der öst. Sozialdemokratie.
Andreas Mailath-Pokorny
H: Im Übrigen führt die digitale Revolution dazu, dass sich die Jugend immer weiter von der klassischen Musik entfernt. Hier müsste man sie heraus holen. Viele sind überhaupt nur noch über die sozialen Medien zu erreichen.
MP: Die große politische Debatte sollte ohnehin auf ein gut funktionierendes österreichisches Schulsystem zielen, und dazu ist je einiges im Gange. Die Konservatorien sollten im Angebot musischer Fächer verstärkt werden. Darüber hinaus sollten Wege gefunden werden, Interesse für die traditionellen Kulturformen zu wecken. „Wie kann man Neugierde in den Sozialen Medien wecken?! Ist Instagram dazu erforderlich? – Ich wage es zu bezweifeln.“ Und wie vermitteln wir künstlerische Qualität?
G. Man arbeitet derzeit an einer App, über die Musikunterricht laufen kann. Und ein bedeutender Instrumentenbauer ist nun dabei, eine App für jedes Instrument dazu zu liefern.
H findet, dass künstlerische Qualität etwas zutiefst Humanistisches ist, verbunden mit dem Streben nach Besserwerden. Das gibt es aber noch nicht im erwünschten Ausmaß.
G: Wenn man über das normale Musikinteresse hinaus auch musikalisch tätig werden will, muss die entsprechende Entscheidung zur Ausbildung schon mit 10/11 Jahren fallen. Mit 18/19 muss man schon auf dem musikalischen Zenit sein – da kommen die Fußballer gerade mal erst in Schwung! Bis dahin muss man aber schon zehntausende Stunden geübt haben.
H erinnert noch daran, das Staatsoperndirektor Dominique Meyer, der auch bei der Matinee zugegen war, nachmittags Vorstellungen für Kinder aus den Bundesländern spielt. Die Produktionen hatten immer hier im Hause Premiere. Man kann aber nicht die Atmosphäre des Hauses transferieren.
Martin Grubinger
PS:
Mir lag der Fokus dieser Gesprächsmatinee zu sehr auf Österreich, mit besonderem Bezug auf Oberösterreich. Das Thema ist aber ebenso wie die weltweite digitale Revolution ein globales! So wundert mich ein wenig, warum auch andere wichtige Aspekte der musischen Bildung nicht angesprochen wurden. Wissenschaftliche Studien haben klar gezeigt, dass Kinder mit musikalischer Ausbildung besser lernen, eben auch die Pflichtfächer. Damit hat man besonders in Südkorea gute Erfahrungen gemacht, wo die musische Ausbildung in den Schulen eine ganz wichtige Rolle spielt. Nicht umsonst gewinnen koreanische Sängerinnen und Sänger immer wieder in signifikanter Zahl auf europäischen Gesangswettbewerben. Man denke nur an den ARD-Gesangswettbewerb, der im September wieder stattfinden wird.
Auch wurden bedeutende Modelle in diesem Kontext nicht angesprochen, wie das mittlerweile weltberühmte „El Sistema“ aus Venezuela, gegründet bereits 1975 vom venezolanischen Erzieher, Musiker und Aktivisten José Antonio Abreu. Aus dem „Sistema“ ging unter anderen kein geringerer als Gustavo Dudamel hervor… 2015 hatte „El Sistema“ bereits 400 Musikzentren mit 700.000 jungen Musikerinnen und Musikern. Weiterhin gibt „Sistema“ eine signifikante Zahl von Musikstunden nach der Schule und an Wochenenden. „El Sistema“ wird sogar in den USA als Vorbild genommen.
Dann gibt es das ungarische „Virtuosus“, ein Fernsehprogramm für Kindertalente, welches äußerst erfolgreich ist und an drei Monaten im Freitags-Hauptprogramm ausgestrahlt wird. Es wurde ein Zuwachs von 40 Prozent an Inskriptionen in Musikschulen verzeichnet.
Schließlich gibt es noch das österreichische „Superar“ mit dem Mission Statement: “Superar provides training in music and dance and offers access to the positive effects of the performing arts to all children free of charge.“ Dabei sollen auch soziale und kulturelle Schranken überwunden, mehr Optionen zum Musikmachen geboten und ein länderübergreifender Dialog gefördert werden. Schließlich steht auch bei Superar die Kreativität mit „ansteckender Freude“ im Vordergrund der Bemühungen.
Und dann wurde die Kinderoper überhaupt nicht erwähnt, die Dominique Meyer im Théatre des Champs Élysées sogar auf der Hauptbühne brachte und die nun in Wien auf der Agrana Studienbühne stattfindet. Es gibt sie auch in Bayreuth. Sie scheint aber keine allzu große Wirkung im Hinblick auf eine signifikante Zunahme ganz junger Opernbesucher zu zeitigen. Da spielen doch noch andere Faktoren eine Rolle.
Es sollte auch das immer mehr im Mode kommenden Life-Streaming nicht unerwähnt bleiben, das mit der intensiven Kinopolitik der Metropolitan Opera New York seinen Anfang nahm. Wie kann man nun die auf der ganzen Welt über Internet zugängliche Oper und Konzerten von ersten Häusern für die Erweckung des Interesses junger Menschen an klassischer Musik nutzen? Da gäbe es viele Möglichkeiten…
Von den o.g. drei Modellen könnte man sicher auch in Österreich an Erfahrung mit dem Thema dieser „Kontrapunkte“ gewinnen und in die nationale Politik einbringen. Insofern waren diese „Kontrapunkte“ nicht ganz so kontrapunktisch…
Fotos: Wiener Staatsoper/Ashley Taylor
Klaus Billand