Linz: Elektra - Premiere 19. Januar 2019

Rache, nur Rache allein…

Die Mägde

Die Mägde

Es wird dunkel, der Vorhang hebt sich langsam, und keine Musik! Man blickt in ein relativ verkommendes Kinderzimmer mit allerdings neuzeitlichem Spielzeug. Im Regal liegt beispielsweise ein Dunlop-Ball. Elektra sitzt in einem schäbigen Alltagsgewand gelangweilt auf dem Boden und hält einen Spielzeug-Kreisel am Laufen. Monoton surrt der schnell rotierende Kreisel – was hat er zu bedeuten?! Da hebt ganz unerwartet die Musik mit dem gewaltigen Agamemnon-Motiv an, so gar nicht zu dieser Bühnen-Ästhetik passend. Also wieder einmal extremes Regietheater mit einer allein dem Regisseur vorbehaltenen Deutungshoheit?! Das kann es aber nicht sein; nein, denn dieser ist kein geringerer als Michael Schulz, der einst am Nationaltheater Weimar, 1850 Schauplatz der UA von Wagners „Lohengrin“ durch Franz Liszt, einen intelligenten und anschaulichen „Ring“ des Bayreuther Meisters inszeniert hat, im lokal bedeutenden Bauhausstil.

Mit Elektra am Tisch!

Mit Elektra am Tisch!

Nein, wir erleben in Linz ein tiefenpsychologisches Familiendrama (der Atriden) in bester Freud’scher Manier mit geschichtlichen und mythologischen Dimensionen. Die Schulzsche „Elektra“, begleitet von seiner Dramaturgin Ira Goldbecher, ist optisch und vom Regiekonzept her eine nahezu „veristische“ Interpretation mit fein gestreuten Elementen des Regietheaters bzw. einer Theaterästhetik, die heutigen Vorstellungen moderner Theaterdramaturgie entspricht. Das ganze Stück wird aus den Augen, also völlig subjektiv, von Elektra gesehen, die nur eines im Kopf hat, den Mord an ihrem Vater Agamemnon zu rächen. Und das bedeutet von Anfang an Gewalt. Hierzu müssen sich ihr alle anderen beugen, ihre diesbezüglichen Aktionen nachvollziehen, auf jeden Fall verstehen und im besten Fall noch mitmachen. Das Regieteam bezeichnet Elektra vor diesem Hintergrund sogar als „Gefühlsterroristin“ und impliziert damit durchaus einen Bezug zu einem leider relevanten Phänomen unserer Gegenwart.

Chrysothemis

Chrysothemis

Es geht gleich schon bei den Mägden los. Alle wirken verängstigt, sogar die Aufseherin (!), und die Fünfte trägt schon sichtbare Zeichen ständiger Misshandlungen. Wenn sie sich dann aber alle an den Abendbrottisch setzen, zusammen mit dem Alten Diener, haut Elektra so laut auf den Tisch, das sich selbst das Publikum im Parkett erschrickt. Alle am Tisch zucken zusammen und kriegen fast keinen Bissen mehr runter. Selbst die ihr so verständnisvoll gewogene Fünfte Magd stößt Elektra achtlos beiseite. Stattdessen nimmt sie eine Kinderzeichnung des Portraits ihres Vaters von der Wand des Kinderzimmers – wie sich später herausstellt, ist es das von Orest – und heftet es in den viel zu großen Goldrahmen über dem Esstisch. Dort prangt es nun wie ein Damoklesschwert über allen – eine bedeutungslos erscheinende banale Kinderzeichnung, mit doch so großer Bedeutung. Einfache, aber Gesten mit großer Symbolik!

Elektra

Elektra

Hier ist ganz offenbar eine Entwicklung stehen geblieben, und Schulz will auch bewusst ein bestimmtes Verharren in kindlichen Verhaltensschemen ausdrücken, welche sich immer dann wiedereinstellen können, wenn nach langer Zeit die Personen wieder zusammenkommen. Das erlebt man sehr schön bei der Wiedererkennung des Orest. Kaum hat Elektra seinen Namen genannt, stellt sie die Steiff-Tiere aus der gemeinsamen Kindheit vor sich auf, einen Löwen, einen Hund und einen Teddy. Die Kindheit ist wieder da, und damit wird der all ihren gegenwärtigen Handlungen zugrunde liegende Rachegedanke möglicherweise noch viel gefährlicher, da unkontrollierter und verantwortungsloser… Hiermit gewinnt das Regiekonzept von Michael Schulz ein subtiles und vordergründig seiner noch größeren Dimension kaum wahrnehmbares Gewaltpotenzial, das sich im Laufe des Abends jedoch immer eindeutiger seinen Weg bahnt, bis hin zu einem so wohl kaum je gesehenen Blutbad.

Klytämnestra und Gefolge

Klytämnestra und Gefolge

Zuvor werden jedoch mit großartiger Personenführung und entsprechender Mimik der Protagonisten die Beziehungen zwischen Elektra und der immer noch attraktiven und lebensbejahenden Klytämnestra gezeigt, die jedoch an der unerbittlichen Härte der Tochter scheitert. Zu Chrysothemis zeigt der Regisseur ein weit innigeres und schwesterliches Verhältnis. Es endet weniger mit einer tatsächlichen Verfluchung der jüngeren Schwester durch Elektra, sondern eher mit einer Selbstverfluchung angesichts ihrer Unfähigkeit, diese zu ihrem Mordplan zu überreden. Verachtend sieht Elektra auch die große Hofgesellschaft um Klytämnestra, die endlich einmal den (von Elena Pierini bestens einstudierten) Chor sichtbar macht, den man sonst nur aus dem Off hört. Sie alle sehen wie Freaks und Halbgestörte aus, aber eben nur in Elektras Augen. Denn nur sie hat hier Recht, sie allein weiß, was die Wahrheit ist und was diese nach ihrer Meinung zwanghaft verlangt. Das wird sie am Ende, nach der Bluttat, in die völlige Vereinsamung führen.

Klytämnestra mit Schleppträgerin und Vetrauter

Klytämnestra mit Schleppträgerin und Vetrauter

Das sich immer wieder drehende Bühnenbild von Dirk Becker zeigt zwar ein und dasselbe Zimmer, aber bei jeder Betretung durch Elektra in einer anderen, neuen Optik, eben ausschließlich der ihren, die sich im Laufe des Dramas immer mehr zur Reife ihres Rachevorhabens am Tode Agamemnons verdichtet. So wird auch Orest nach einer schließlich kurzen, doch heftigen schwesterlichen Umarmung zur Tat geschickt, das Messer ist schnell gezückt. Eigentlich hat sie ihn gar nicht als Bruder zurückgewonnen – er ist nun ihr Instrument und verschwindet in der Kulisse. Dann kommen Klytämnestras Schreie. Ein Wagen mit schummrigen Scheinwerfern wird sichtbar, die Blutüberströmte tot liegt auf dem Dach. Als ihr Hof kommt, „Es muss etwas geschehen sein…“ werden einige aus der Menge vom Pfleger des Orest „selektiert“ und kurz darauf im nächsten Zimmer von ihm erschossen. Er wirkt hier wie alles andere als ein Pfleger, wenn ich an den damals 93jährigen Franz Mazura in dieser Rolle in Aix-en-Provence denke. Man wollte sich zwar nicht auf eine bestimmte Zeit festlegen, die Kostüme von Renée Listerdal deuten aber klar auf eine eher in unsere Gegenwart fallende Spielzeit ihrer „Elektra“ hin, und das ist bei dieser Regiekonzeption auch durchaus nachvollziehbar. Von griechischer Mythologie war hier jedenfalls nichts zu sehen…

Klytämnestra

Klytämnestra

Alle übrigen sieht man dann im nächsten Zimmer tot am Boden liegend und Aegisth aus der Kulisse hervortretend, der mit Schreck die tote Klytämnestra sieht und daraufhin von Orest und Pfleger angestochen wird, denn: Den Fang-Schlag gibt ihm Elektra mit dem berühmten Beil. Und das zu zeigen ist Schulz äußerst wichtig, denn er ist der Ansicht, dass sie nur durch ihre Mitwirkung an der Mordtat zu dem Punkt gelangt, „dass eigentlich keine Befriedigung aus dieser Rache entsteht.“ Und das führt schließlich auch zum völligen Alleinsein nach der Tat, denn das Finale sehen wir Elektra, wie auch in der Tragödie von Sophokles, hier überleben, in dunkler Nacht und Einsamkeit: Hinter ihr geht ein schwarzer Paravent nieder, die Rufe von Chrysothemis verhallen ungehört aus dem Off, und Orest ist nicht mehr zu sehen. Es wäre nach dieser Sichtweise auch sinnlos, denn all diese Beziehungen haben nun keine Bedeutung für sie mehr. Sie wurden nach der Tat schlicht und einfach grundlos. Es gibt nach diesem Grauen also keinen Schluss, das wäre Schulz zu einfach. Wahrscheinlich gibt es neues Grauen. Das Publikum soll sich Gedanken machen!

Klytämnestra und Gefolge

Klytämnestra und Gefolge

Alle, die an diesem Abend sangen und spielten, machten ihr Rollendebut – nahezu einzigartig. Es zeigt aber auch das Potenzial des LTL, so ein schweres Stück mit weitgehend eigenem Personal zu stemmen. Mit großer Spannung wurde natürlich das Rollendebut der jungen Finnin Miina-Liisa Värelä erwartet. Ich konnte sie im Juni in Odense als sehr gute Sieglinde erleben, eine Rolle mit tieferer Lage, die sie bestens auszufüllen vermochte. Die Elektra ging sie mit einem helleren Stimmansatz an, vielleicht um den exaltierten Charakter der Rolle, der in dieser Inszenierung ja besonders hervorgehoben wird, besser betonen zu können. Und das gelang aufs Beste, wenngleich hier und da die eine oder andere Tiefe eine noch facettenreichere stimmliche Gestaltung mit sich gebracht hätte. Värelä stellte sich erfolgreich allen stimmlichen Anforderungen der Rolle und spielte sie mit ungeheurer Emphase, sodass sie am Schluss begeisterten Applaus erhielt. Ein voll gelungenes Rollendebut! Dennoch bin ich der Meinung, dass sie die Elektra in ihrem jungen Alter noch nicht allzu häufig singen sollte, obwohl dieses natürlich bestens zur Figur passt.

Orest ist da!

Orest ist da!

Katherine Lerner war eine attraktive, mitten im Leben stehende Klytämnestra und mit ihrem ebenso charakter- wie klangvollen, sowohl in der Tiefe als auch in der Höhe bestens ansprechenden Mezzo – eine Partnerin für Värelä auf Augenhöhe. So wurde ihr Zwiegespräch zu einem der Höhepunkte des Abends. Aber auch Brigitte Geller stand in diesem formidablen „Trimulherat“ mit ihrem kraftvollen Sopran um nichts nach und fügte in ihre sehr gute stimmliche und darstellerische Gestaltung der Chrysothemis eine an diesem Abend ja so rare positiv-emotionale Komponente ein.

Ich hab' ihm das Beil nicht geben können...

Ich hab' ihm das Beil nicht geben können...

Michael Wagner war ein besonnen auftretender – „Ich muss hier warten…“ – Orest mit einem tiefen und voluminösen Bassbariton – ein starker stimmlicher Kontrast zu den drei alles dominierenden Frauenstimmen. Matthäus Schmidlechner gab einen degenerierten und unsicheren Aegisth im Tagesanzug mit verrutschter Krawatte und einem eher hellen, kräftigen Tenor. Philipp Kranjc spielte den brutalen Pfleger des Orest. Etelka Sellei und Kateryna Lyashenko waren einen stimmlich ansprechende Vertraute und Schleppträgerin mit extrovertierter Hutmode, die eher an die britischen Royals als an den Atridenhof erinnerte. Also, die Spielzeit dieser „Elektra“ lag wohl doch relativ stark fest. Mathias Frey sang einen munteren jungen Diener, und Timothy Connor war einen unauffälliger alter Diener im Karo-Hemd. Auch die Aufseherin, Gothe Griesmeier, die Erste, Isabell Czarnecki, die Zweite, Jessica Eccleston, die Dritte, Florence Losseau, die Vierte, Svenja Isabella Kallweit und die Fünfte Magd, Theresa Grabner, sangen und agierten auf dem allgemein ausgezeichneten Niveau des Ensembles.

Alle tot!

Alle tot!

Der Linzer GMD Markus Poschner hatte die musikalische Leitung des gerade auch bei R. Wagner und R. Strauss so bewährten Brucknerorchesters und debutierte ebenfalls mit dem Stück, wie er auf der Premierenfeier mitteilte. Seine musikalische Interpretation war außerordentlich aufregend und spannend und wurde somit zu einem verstärkenden Faktor für das ungewöhnlich dramatische und herzlose Treiben auf der Bühne. Dennoch wurde es nie zu laut, immer ging Poschner auf die Sänger ein und brillierte auch mit der musikalischen Feinzeichnung der lyrischen Momente, wie der Erkennungsszene zwischen Elektra und Orest. Für Poschner ist der „…zentrale Konflikt trotz der antiken Klarheit vielschichtig und stets vage, was Strauss musikalisch zwischen die Zeilen verlagert. Jederzeit ist alles möglich. Und immer weiß es die Musik zuerst.“ Das konnte er an diesem Abend beweisen. Es gelang ihm mit dem ausgezeichneten Orchester eine „Elektra“ aus einem Guss, sodass er neben den Sängern am Schluss begeisterten Applaus erhielt. Einige der kommenden Aufführungen wird der junge und sympathische Leslie Suganandarajah aus Sri Lanka dirigieren, der gerade als stellvertretender Kapellmeister in Linz angefangen hat, nachdem er u.a. fünf Jahre in Koblenz war.

Die Rache ist vollendet! Und nun---?!

Die Rache ist vollendet! Und nun---?!

Das Landestheater Linz, dieser Tage arg gebeutelt durch die oberösterreichische Kulturpolitik, hat mit dieser „Elektra“ das große Dreigestirn von Richard Strauss, zu dem bekanntlich noch „Die Frau ihren Schatten“ sowie „Salome“ zählen, überaus erfolgreich abgeschlossen. Hoffentlich wird manchem lokalen Kulturpolitiker klar, was das in der internationalen Opernwelt bedeutet und wie sehr große Häuser die Linzer – auch angesichts ihres facettenreichen Musiktheaterprogramms – deswegen beneiden dürften. Man könnte nun fast schon von einem „österreichischen Garmisch“ sprechen. Ein Lob dem dynamischen Intendanten Hermann Schneider, der seine Truppe offenbar mit großer Emphase auf dem weiteren Weg vorantreibt und dabei spürbar auf dem richtigen ist!

Fotos: Reinhard Winkler / Landestheater

Klaus Billand

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