Udo Bermbach: „Die Entnazifizierung Richard Wagners – Die Programmhefte der Bayreuther Festspiele 1951-1976“ - August 2020

Der Buchcover

Der Buchcover

Udo Bermbach, einer der weltweit führenden Wagner-Experten und -schriftsteller, ist emeritierter Professor für Politikwissenschaft an der Universität Hamburg und Gründungsherausgeber der Zeitschrift wagnerspectrum, welche bei zweimaligem Erscheinen pro Jahr ein meinungsoffenes Zentrum der internationalen Wagner-Forschung ist und sich als ein zentrales Diskussionsforum zu Richard Wagner, seinen Werken und seiner Rezeption versteht. Bermbach ist durch eine Reihe maßgeblicher Buchveröffentlichungen zu Richard Wagner und seinem Oeuvre als Herausgeber und Autor hervorgetreten, darunter: Der Wahn des Gesamtkunstwerks. Richard Wagners politisch-ästhetische Utopie, 1994/2004; Blühendes Leid. Politik und Gesellschaft in Richard Wagners Musikdramen, 2003; Richard Wagner. Stationen eines unruhigen Lebens, 2006; Richard Wagner in Deutschland. Rezeption und Verfälschungen, 2011; Mythos Wagner, 2013; Houston Stewart Chamberlain. Wagners Schwiegersohn – Hitlers Vordenker, 2015; Richard Wagners Weg zur Lebensreform, 2018. Im Jahre 2000 war Bermbach zudem Konzeptdramaturg bei der Bayreuther Neuinszenierung des „Ring des Nibelungen“ durch Jürgen Flimm und verfasste mit dem Journalisten Hermann Schreiber einen großen kommentierenden Bildband zu dieser Produktion.
Angesichts dieser Literaturliste und Bermbachs Wirken im wagnerspectrum, wo es ihm immer wieder um philosophische, ideengeschichtliche und (gesellschafts-)politische Dimensionen des Wagnerschen Werkes, insbesondere dessen opus magnum, dem „Ring des Nibelungen“ geht, kann es nicht verwundern, dass sich der Autor nun mit dem Thema der „Entnazifizierung Richard Wagners“ anhand einer Analyse der Aufsätze in den Programmheften der Bayreuther Festspiele vom Nachkriegsbeginn 1951, dem sog. Neu-Bayreuth, bis zum „Jahrhundert-Ring“ von Patrice Chéreau 1976 annahm. Positiv verwundert haben mich allenfalls die Akribie, Detailgenauigkeit und Tiefe der Recherche sowie die eindrucksvoll und stets ebenso plausibel wie nachvollziehbar beschriebenen Entwicklungen, die sich über die Programmhefte während dieser so wichtigen 25 Jahre abbilden; eine Zeit, in der sich die Bayreuther Festspiele nach ihrer Verstrickung mit dem NS-Regime langsam, aber sicher wieder in die Theater- und Kulturlandschaft der jungen Bundesrepublik zurück gearbeitet haben. Die Lektüre der Analysen von Bermbach macht klar, dass die in den Programmheften publizierenden Autoren einen nicht unwesentlichen Einfluss auf diesen Prozess hatten.

Die Programmhefte und damit die Bestellung der Autoren standen in der Verantwortung von Wieland Wagner bis zu dessen Tod im Oktober 1966, als sein Bruder Wolfgang alleiniger Festspielleiter wurde und damit auch die Verantwortung für die Hefte übernahm. In den Programmheften fanden über diese 25 Jahre hinweg ständige Auseindersetzungen mit Wagners Werk statt, die für Bermbach durchaus nachvollziehbar „als ein wichtiger Indikator der kulturpolitischen Entwicklung der Bundesrepublik Deutschland betrachtet werden müssen.“ Dabei waren es für den Autor hauptsächlich drei Säulen, auf denen der Neu-Bayreuther Stil Wieland Wagners ruhte: Richard Wagners starkes Interesse an der griechischen Antike, die Grundlegung der analytischen Psychologie C. G. Jungs mit ihren Archetypen und schließlich die bereits 1895 beschriebene Abhandlung von Adolphe Appia „La Mise en scène du drama wagnerien“, in der dieser seine Theorie eines vornehmlich auf Licht bauenden Wagnertheaters darstellte, damit bei Cosima und Siegfried Wagner aber auf Ablehnung stieß.

Festspielhaus Bayreuth

Festspielhaus Bayreuth

Nun war die Zeit gekommen für eine Neuausrichtung des Wagner-Bildes, nicht zuletzt auch wegen fehlender finanzieller Mittel nach dem Krieg, welche eine Entrümpelung der alt-germanisch konzipierten Bühnenbilder und Kostüme quasi erzwangen.

Aber es war Wieland Wagner, der die Notwendigkeit eines neuen Wagner-Bildes erkannte, um sich ein für allemal von der braunen Vergangenheit zu trennen und Bayreuth wieder in die vorderste Linie der Wagnerrezeption in Deutschland zu führen. Umso verwunderlicher musste erscheinen, dass von 1951 bis in die späten fünfziger Jahre – und zum Teil sogar noch darüber hinaus – Autoren in den Programmheften zu Wort kamen, die keineswegs neu sondern altbekannt, teilweise schwer NS-belastet waren und bis 1945 noch eindeutig einem völkischen Germanenkult huldigten, der in der Nazi-Zeit die maßgebliche Interpretationslinie des Wagnerschen Oeuvres bestimmte. Sie waren politisch erzkonservativ. Hier nennt Bermbach insbesondere Autoren wie Zdenko von Kraft mit einem „rückwärtsgewandten Konservatismus“, Otto Strobel und Hans Grunsky, der den Nationalsozialismus zur Staatslehre ausbauen wollte und an der Münchner Universität Lehrveranstaltungen u.a. zu „Geist und Blut“, dem „Judentum in der Philosophie“ und über eine „germanische Metaphysik des Willens“ hielt. Des Weiteren hebt Bermbach Curt von Westernhagen hervor, schon seit 1924 NSDAP-Mitglied und „ein glühender Antisemit und Gegner der Weimarer Republik, der mit radikal-völkischen Kreisen sympathisierte und schon in den ,Bayreuther Blättern‘ über den nationalsozialistischen Rassentheoretiker Hans F. K. Günther und dessen Beurteilung Wagners“ schrieb. Daneben gab es einige „Mitläufer“ wie Richard Karl Ganzer. Bermbach vermutet als einen wesentlichen Grund für die Zulassung dieser Autoren durch die Festspielleitung für die Programmhefte, dass zu jenen Jahren keine bekannten und kenntnisreichen Autoren vorhanden waren, die das nötige Rüstzeug für solche Publikationen gehabt hätten und nicht von der Nazi-Ideologie betroffen gewesen wären. Gleichwohl drückt er sein durchaus nachvollziehbares Erstaunen darüber aus, wie schnell und unbekümmert diese Autoren in einem Akt von „ideologischem Opportunismus“ eine „zeitbezogene intellektuelle Wendigkeit“, verbunden mit dem „Mut zum radikalen Selbstwiderspruch“ an den Tag legten, wobei sie auf Aktuelles (also den neuen Inszenierungsstil Wielands) reagierten und „das, was gestern noch als wahr behauptet wurde, heute als Erzübel einer schlechten Wagnerei verdammt“ wurde. Erstaunlicherweise stieß dies in der Öffentlichkeit aber nicht auf Widerspruch sondern wurde stillschweigend toleriert.

Gleichwohl haben aber indirekt selbst diese Autoren zu einer Erneuerung des Wagner-Bildes beigetragen, indem sie mehr oder weniger stark den neuen Inszenierungsstil Wieland Wagners anpriesen und sich, mit Schwerpunktsetzung auf den „Ring“, immer wieder mit seinen drei Determinanten befassten, der griechischen Antike, den Archetypen von C. G. Jung sowie der Lichtregie von Appia, auf die Wieland ja besonders zurückgriff. (Man möge sich einmal vorstellen, was passiert wäre, wenn Appia, der damals schon die Bühne entrümpeln und mit flexiblem Licht arbeiten wollte, bei Cosima und Siegfried damit auf offene Ohren gestoßen wäre… Anm. d. Verf.). Interessant ist Bermbachs Hinweis auf das Lichttheater von Hellerau bei Dresden, das schon zu Beginn des Jahrhunderts erprobt worden war und wie „ein Vorbild für das Neu-Bayreuth der fünfziger Jahre“ angesehen werden könne. Die meisten dieser Autoren brachten in ihren Aufsätzen eine große bis überschwängliche Bewunderung für Wieland zum Ausdruck, womit Bermbach hier und da vermutet, dass auch dies ein Faktor gewesen sein könnte, dass sie immer wieder eingeladen wurden. Immerhin trugen sie, die ja bis 1945 ganz anders gepolt waren, zu einer theoretischen Untermauerung von Neu-Bayreuth bei und arbeiteten so gesehen – manche vielleicht auch unbewusst – durchaus in Wielands Geiste. Also könnte man im Sinne des Buches sagen, dass die „Entnazifizierung Wagners“ schon gleich zu Beginn der fünfziger Jahre in den Programmheften begann, in großen Teilen freilich geschrieben von ehemaligen Nazis (Anm. d. Verf.).

Villa Wahnfried

Villa Wahnfried

Mit dem klassischen Philologen Karl-Heinz Volkmann-Struck, Spezialist für griechische Philosophie, der über Kant, Hegel, Nietzsche und Heidegger publiziert hatte und für die Festspiele 1956 eine vierteilige Serie über den „Ring“ schrieb, entstanden mit einer Annäherung an die zeitgenössischen Tendenzen der Philosophie nun erste Konturen eines neuen Wagner-Bildes, wie Bermbach schreibt, von aus der Nazi-Zeit völlig unbelasteten Autoren. Ein Jahr später schrieb mit Theodor W. Adorno erstmals ein exponierter Vertreter der intellektuellen Linken im Programmheft, und zwar zum „Parsifal“, politisch noch unverfänglich. Aber die Zeit der intellektuellen Linken war endgültig gekommen, als Ernst Bloch, damals noch in der DDR lebend, 1960 einen langen Beitrag über die gesellschaftlichen, politischen und ideologischen Brüche in Wagners Leben und Denken schrieb. Es folgte Hans Mayer, damals ebenfalls noch Professor in der DDR, mit einem vielzitierten Aufsatz zum „Tannhäuser“. Hier zeigte sich langsam, dass Wagner ja auch ein Sozialrevolutionär war und insofern durchaus nahe bei der Philosophie der politischen Linken, die sich immer mehr artikulierte.

Hans Heinz Stuckenschmidt, Musikwissenschaftler und prominenter Musikkritiker, schrieb als Fürsprecher der Neuen Musik in den Programmheften und wurde somit zum Vertreter der Öffnung zur Neuen Musik hin, nach der Öffnung nach „links“. Besonders Ernst Bloch und Hans Mayer wiesen mit ihren Aufsätzen zu einer entschiedenen Modernisierung Wagners bereits auf den „Jahrhundert-Ring“ von Patrice Chéreau 1976 hin, ohne davon zu wissen. Wolfgang Schadewaldt, eine weltbekannter Tübinger Gräzist und Althistoriker, den Bermbach als „Griechen in Bayreuth“ bezeichnet, beschreibt in den Programmheften 1962 und 1963 Wagner als „einen der bedeutendsten Vermittler der Antike in der Moderne“ und unterstreicht seine Verbindung zum griechischen Mythos. Wieder reine totale Harmonie mit der Neuinszenierung des „Ring“ von Wieland! Willi Haas schrieb das bis dahin radikalste Plädoyer für einen Wagner, ohne dabei politisch nach links zu gehen, meint Bermbach. Im Übrigen verlief die nun immer mehr durch gesellschaftliche, linke Themen gezeichnete Auseinandersetzung in den Programmheften synchron mit der unruhiger werdenden Zeit in der Bundesrepublik. Aber Wagner wurde dabei immer mehr in die Realität geholt – eine weitere Annäherung an das spätere Regiekonzept Chéreaus, der bekanntlich Wagner vom Podest stoßen wollte, aber auch eine weitere Unterstreichung der Relevanz des Wagnerschen Oeuvres für die Thematik und Behandlung zeitgenössischer (gesellschafts-)politischer Probleme. Wie mühsam sich die Wende zu einem neuen Wagner-Verständnis in Bayreuth vollzog, zeigt jedoch, dass „der Alt-Nazi Grunsky“ bis 1964 und von Westernhagen gar bis 1976 in den Programmheften schrieben.

Nach Wieland Wagners Tod 1966 übernahm Wolfgang Wagner die Programmhefte und sorgte nicht nur hier für eine Internationalisierung der Autoren, was Wieland mit einigen Franzosen schon langsam begonnen hatte, sondern hob auch das Verdikt auf, dass nur Deutsche in Bayreuth inszenieren konnten, eigentlich bis dahin ja nur Mitglieder der Familie Wagner. Das ist m.E. das große Verdienst Wolfgang Wagners für die Festspiele, sie kompetent und weltoffen in den internationalen Wettbewerb der Wagner-Rezeption gestellt zu haben, da ja nun auch in anderen Ländern weltweit immer mehr Wagner-Aufführungen gezeigt wurden. Und diese Internationalität hat sich auch in den Programmheften ab dem Ende der sechziger Jahre niedergeschlagen. Wolfgang ließ 1967 sogar erstmalig einen bekannten deutschen Politiker, Carlo Schmid, darin schreiben und brachte damit Wagner noch einmal näher zum Publikum.

Schon kurz vor seinem Tode hatte sich Wieland aber mit Antoine Goléa, einem französischen Musikkritiker und Freund von Pierre Boulez, über seine ästhetischen Vorstellungen zum Wagner-Theater unterhalten und als Anhänger des Brecht’schen Theaters gefordert, dass das Publikum intellektuell mitarbeiten müsse. Die Idee des nun geschichtsbezogenen „Ring“ von Patrice Chéreau, der auf Empfehlung von Boulez ins Spiel kam, nachdem Gespräche Wolfgangs mit Ingmar Bergmann und Peter Stein ergebnislos blieben, wurde da geboren. Sie war im Prinzip aber auch schon in den Programmheften über viele Jahre bewusst oder unbewusst vorbereitet worden. Nach anfänglichem großem Widerstand der Alt-Wagnerianer – u.a. mit Gründung de erzkonservativen Richard-Wagner-Gesellschaft zur Wahrung des Werks des Schöpfers – wurde diese Inszenierung ein großer Erfolg, ja ein Kult-„Ring“, von dem man sich gar nicht mehr trennen wollte. Hätten die damaligen Festspielbesucher die in den Jahren dieser Produktion erschienenen Programmhefte (intensiver) gelesen, wären die Proteste sicher moderater ausgefallen. Aus heutiger Sicht ist es eine der, wenn nicht die größte „Ring“-Produktion, die Bayreuth je gesehen hat. Und dabei haben auch die Programmhefte von 1951-1976 eine bedeutende Rolle gespielt. Die mehr oder weniger unbewusst auf diese Jahrhundert-Produktion des „Ring“ hinführende Auseinandersetzung mit dem Neubayreuther Stil von Wieland und Wolfgang Wagner hat letztlich zu der von Udo Bermbach postulierten Entnazifizierung Richard Wagners geführt und diese auch zum Abschluss gebracht.

Für die Freunde des Wagnerschen Werkes, die in jener Zeit am Grünen Hügel dabei waren, ist das Buch von Udo Bermbach eine enorme Bereicherung, auch im Sinne eines fundierten Rückblicks und persönlicher Erinnerungen.

Fotos: Klaus Billand

Klaus Billand

Udo Bermbach: „Die Entnazifizierung Richard Wagners – Die Programmhefte der Bayreuther Festspiele 1951-1976; J. B. Metzger Verlag 2020, 258 Seiten u. Anm.