RIGA: Carmen - WA 25. Oktober 2013

Marlene Lichtenberg als Carmen

Marlene Lichtenberg als Carmen

Mit einer unkonventionellen Aufführung des „Barbier von Sevilla“ am 24. und einer ebenso fantasievollen und ungewohnten, da einmal nicht in Andalusien angesiedelten „Carmen“ bewies die Lettische Nationaloper Riga (LNO) im Oktober einmal mehr ihre führende Stellung im Baltikum. Und dabei waren beides Repertoire-Aufführungen, die angesichts ihrer Frische und dramaturgischen Intensität fast wie Premieren wirkten, obwohl sie aus den Jahren 2011 bzw. gar 2007 stammen.

Michaela, Don José und Carmen

Michaela, Don José und Carmen

Besonders beeindrucken konnte die „Carmen“ in der Inszenierung des früheren Generaldirektors Andrejs Zagars mit Unterstützung des früheren Dramaturgen am LNO, Jochen Breiholz. Schon der Bühnenvorhang besteht aus einer riesigen kubanischen Nationalflagge. Zagars setzte die gesamte Handlung in das schon eindeutig vom sozialistischen Verfall gezeichnete Kuba des späten Fidel Castro. Es gibt also keine Stiere, keine Corrida und auch keine Castañetten, sondern die ganz unter dem Einfluss der kubanischen Revolution in bescheidenen Umständen lebenden KubanerInnen, die dem Volksport Boxen frönen bzw. die starken Männer dabei bewundern. So ist Escamillo also ein Star-Boxer. Ständig übt man sich in Bars und auf der Straße in der Aufbesserung der Schlagqualität. Getrunken wird natürlich auch viel, also gibt es auch Rauferien bei Lillas Pastia. Zagars gelingt es, ein äußerst authentisches Flair des Kubas jener und weitgehend auch noch heutiger Tage zu zeichnen. Da sind die drahtigen jungen Burschen in ihren bunten Turnshorts und Sportswear T-Shirts, immer an das begehrte US-Design erinnernd. Sie treiben sich gelangweilt und ohne Arbeit vor der ramponierten Werkhalle der Tabakfabrik aus Wellblech mit den obligaten revolutionären Sprüchen zur Motivierung der Arbeiterschaft herum („Siempre Heroismo y Victoria“), mit dem noch jungen Fidel Castro in Siegerpose (Bühnenbild Monika Pomale, stets gute Beleuchtung Kevin Wyn-Jones). Immer wieder ist auch das Konterfei seines Freundes Che Guevara zu sehen. Am Telegrafenmast hängt eine nicht mehr intakte DDR-Peitschenlaterne, wie man sie von ihrer früheren Staatsgrenze nur zu gut kennt. Warum die aus der Luft abgeworfenen Flugblätter in der Sprache des Klassenfeindes Englisch zum Sozialismus aufrufen, bleibt unklar.

Mercedes und Frasquita

Mercedes und Frasquita

Die mit dem üblichen Fahrrad eintrudelnde Micaela, hier eine Krankenschwester mit sehr kubanisch anmutenden Korkenzieherlocken, ist da eine erfreuliche Abwechslung in der Tristesse des Alltags, während Don José verzweifelt sein uraltes Beisitzer-Motorrad zu reparieren versucht… Später wird Carmen ihn mit seinem Sturzhelm von diesem aus mit der Habanera umgarnen. Zuvor bricht sie sich aber in einer sehr authentischen Skandalszene Bahn aus der Tabakfabrik, indem sie gleich das ganze Blechtor mitreißt. Zagars versteht die Handlung ständig unter großer Spannung zu halten mit einer auf einzelne Rollenstudien feinstens abstellenden Pesonenregie, allen voran natürlich die sehr expressive und extrovertierte Carmen selbst. Da können die herumstehenden Soldaten in ihren typischen olivgrauen Uniformen mit Zuniga und Morales an der Spitze nur tatenlos zusehen. Carmen hat natürlich etwas für den Boxsport übrig: Ihre T-Shirt mit des Stars and Stripes trägt die Aufschrift New York Boxing Club! (Kostüme Kristine Jurjane). Ihr offenbar intensiver Freiheitsdrang wird schon hier subtil erkennbar… Ein subtiler Moment – durchaus in diesem Freiheitsstreben Carmens – ist eine Szene im 3. Akt, in der sie grübelnd vor dem Sonnenuntergang über dem Malecón, der berühmten Strandpromenade Havannas, nach dem Duell zwischen Don José und Escamillo und ihrer ungünstigen Karten Unheil ahnend in die Ferne blickt. Zuvor hatten die Schmuggler ihr Gut auf Schlauchboote verpackt, mit denen es offenbar nach Florida geht. Die Produktion hat trotz aller Lebensfreude und dramatischen Intensität auch Momente des reflektiven Innehaltens. Nachdem der Top-Boxer Escamillo in das schon etwas ramponierte Betonstadion von Havanna eingezogen ist, kommt es zu einer hochemotionalen Auseinandersetzung zwischen Don José und Carmen, in deren Verlauf er im Affekt eine Flasche der Getränkeverkäuferin aufschlägt und sie ihr an die Halsschlagader rammt – sie muss jämmerlich verbluten. Auch das war neu und machte nach allem bis dahin Erlebten viel Sinn. Es war alles Verismo pur!

Cuba...

Cuba...

Dass all diese Szenen und Einzelmomente in einem so raren Facettenreichtum zum Ausdruck kamen, ist in hohem Maße der in Cottbus engagierten Mezzosopranistin Marlene Lichtenberg aus Südtirol zu danken. Sie debütierte mit dieser Rolle, welche sie noch gar nicht so oft gesungen hat, an der LNO Riga und sang und verkörperte sie, als hätte sie seit längerer Zeit nichts anderes gesungen. Dabei ist sie in Cottbus ständig als Niklas, Hänsel, Amneris, Ulrica, Jezibaba, Olga und auch in bedeutenden Wagner-Partien wie der Erda und „Götterdämmerung“-Waltraute sowie in kleineren Rollen wie Flosshilde und 1. Norn im Einsatz. Lichtenberg spielte nicht, sie w a r die Carmen, so viel Intensität vermochte sie mit ihrem lebhaften Engagement und einer variantereichen Mimik auf die große Rigaer Bühne zu bringen. Wenn sie darauf stand, war sie sofort im Mittelpunkt. Dazu kommt ihr klangvoller dramatischer Mezzo, der alle Höhen und Tiefen der Partie stets bestens intonierend und mit üppiger Klangfarbe auf jede Note meistert. Ganz nebenbei hat sie für die Carmen auch die ideale Optik. Der Lette Andris Ludvigs war ihr ein ebenbürtiger Partner, wenn auch nicht so intensiv im Spiel, eher etwas kontemplativ, was angesichts des Zwiespalts, vor dem er steht, jedoch angemessen war. Ludvigs beeindruckte durch seinen klangschönen höhensicheren und strahlkräftigen Tenor und konnte damit viel Emotionalität vermitteln. Dana Bramane sang eine gute Micaela mit lyrischem Flair – allein einige Höhen verloren etwas an Klangfarbe. Janis Apeinis, am Vorabend noch Barbier von Sevilla, war ein prägnanter Escamillo mit dramatischem Aplomb und großer Virilität, ein idealer Gegenspieler des etwas behäbigen José von Ludvigs. Unter den Nebenrollen glänzten besonders Ilona Bagele als Mercedes mit einem fülligen Mezzo und Armands Silins als Morales mit kräftigem Bariton. Aber auch Kristine Gailite als Frasquita, Miervaldis Jencs als Dancairo, Andris Lapins als Remendado sowie Erlends Ritenbergs als Pastia konnten auf diesem hohen Niveau mithalten. Viesturs Vitols klang als Zuniga etwas hölzern. Der LNO Chor sang stimmstark, während die SchülerInnen der Rigaer Domchor-Schule stimmlich etwas blass blieben. Aber alle wurden von Elita Bukovska sehr gut choreografiert.

Die Lettische Nationaloper - LNO

Die Lettische Nationaloper - LNO

Der polnische Gastdirigent Tadeusz Wojciechowski brachte das wie immer gute LNO Orchester schon mit einem schmissig dirigierten Vorspiel sofort auf „Carmen“-Temperatur, die es den ganzen Abend beibehielt. Dass man auch die kontemplativen Momente genau verstand, dokumentierte eine subtile Musizierung der Carmen-Suite vor dem Schmuggler-Akt. Das hatte hohe Qualität und fand auch großen Zuspruch bei Publikum – wie alle
Beteiligten am Schluss. Man war sich bewusst, einen spannenden und ereignisreichen Opernabend erlebt zu haben.

Fotos: Klaus Billand

Klaus Billand

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