Augmented Phantasy statt Augmented Reality
Gurnemanz mit Kundry und den Knappen 1. Aufzug
Das Bayreuther Festspielhaus erstrahlt nach der Renovierung fast wieder in altem Glanz, zumindest äußerlich. Weniger erstrahlend war hingegen der neue „Parsifal“ in der Produktion von Jay Scheib mit der Bühne von Mimi Lien, den Kostümen von Meentje Nielsen, dem Licht von Rainer Casper und der hier neu hinzugetretenen sog. Augmented Reality – AR und Videos von Joshua Higgason. Wie man lange im Vorfeld umfang- und blumenreich informiert wurde, ist das Regieteam angetreten, mit der Neuerung, hier Augmented Reality vorzuführen, das heißt diesen „Parsifal“ erleben zu lassen – ursprünglich gedacht für das gesamte Festspielhaus – durch sogenannte AR-Brillen, die man also aufsetzt und in denen man zusätzliche Handlungselemente sieht im erweiterten Rund des Festspielhauses.
Georg Zeppenfeld als Gurnemanz im 1. Aufzug
Diese Augmented Reality möchte ich aber nach der Erfahrung mit der AR-Brille während des gesamten „Parsifal“ auf dem Kopf, als eine Augmented Phantasy bezeichnen. Also als eine erweiterte Phantasie und eben keine erweiterte Realität, denn fast nichts von dem, was man in der Brille zu sehen bekam, hatte etwas mit der Realität des „Parsifal“ zu tun, einer erweiterten Realität des Wagnerschen Bühenweihfestspiels. Das ist genau das Problem dieser Produktion: Meines Erachtens ist dieses ganze System völlig überfrachtet mit Bildern, mit dem Wunsch nach Phantasien und Farben, nach farben- und aktionsreicher Phantasie. Es gibt Beifälliges und manches mehr, weniger Eindrucksvolles, bisweilen auch Eindrucksvolles.
Elīna Garanča als Kundry im 1. Aufzug
Aber das meiste hat nichts zu tun mit der Handlung des Werks, was man doch erwarten würde, wenn man schon sagt, man wolle erweiterte Realität in den Brillen zeigen. Da möchte man doch eigentlich die Realität der Bühne, also das Bühnengeschehen, erweitert sehen um Facetten und Inhalte, die man auf der Bühne (und nicht nur auf der Bayreuther Bühne) nicht abbilden kann, aber im Sinne der Realität und des Anspruchs des Stücks. Weitestgehend ist das unterblieben bis zu dem Punkt, an dem man fragen muss, ob Regisseur Jay Scheib und sein Team, vor allem wohl Joshua Higgason, den „Parsifal“ wirklich in- und auswendig kennen und sich auch einige Inszenierungen angesehen haben. Denn das scheint doch gerade für eine solch gewagte Arbeit absolut erforderlich. Statt des Erwarteten sieht man, und hier sollen nur drei Beispiele für viele andere Bilder genannt sein, etwa 30 Puffottern, deren größte sich sogar beißen, wenn Amfortas seinen ersten Monolog singt. Zu Beginn des 2. Aufzugs werden Klingsor und scheinbar auch Kundry durch eine Art wild beißende Tyrannosaurus Rex-Schädel portraitiert, oder was immer das darstellen sollte. Einmal fliegen jede Menge Totenschädel durch die Gegend, ohne mit der dazu sichtbaren Aktion auf der Bühne in Verbindung zu stehen. Der getroffene, aber noch munter fliegende Schwan trieft plakativ von Blut, das im ganzen Haus herumspritzt. Es fliegen Pfeile in großer Zahl, später auch Bücher und Schwerter – wild durch den Raum… Am ehesten leuchten noch die zunächst stehenden, später aber kreuz und quer liegenden Bäume des heiligen Waldes zu Beginn des 1. Aufzugs und auch im dritten ein.
Andreas Schager als Parsifal mit Elīna Garanča als Kundry im 1. Aufzug
Zudem nervt ein ständig über die Bühne wuselnder Kameramann, der alle Protagonisten und Szenen-Elemente aus nächster Nähe filmt und damit dem Bühnengeschehen viel Authentizität entzieht. Das ist doch ein mittlerweile völlig abgedroschenes Mittel und sollte einfach mal unterbleiben.
Wir sehen auf der Bühne im Grunde einen relativ normal bzw. unaufgeregt inszenierten „Parsifal“ – das würde man nicht gerade als Regietheater bezeichnen. Eine Inszenierung, deren Premiere am 25. Juli beim Festspiel-Publikum im Prinzip auch einmal gut angekommen ist. Denn damals
hatten wie an diesem Abend nur 300 Besucher diese AR-Brillen, die von den Geldgebern als zu teuer empfunden worden waren und auch einen enormen technischen Aufwand bedeuten, der eben kostspielig ist.
Jordan Shanahan als Klingsor
An jedem Sessel befindet sich ein Sack mit der Brille und eine Art kleiner Transformator. Dieser ist mit einer Technologie ausgestattet und verbunden, die
höchst fortschrittlich und damit natürlich auch teuer ist. Aber die meisten Besucher, also etwa 1.660, sehen die Brillen-Inhalte gar nicht. Selbst einige Kritiker hatten sie nicht ständig auf der Nase. Wenn man dann in
der Pause darüber spricht, was man denn gesehen habe, reden die „Brillen-losen“ von etwas ganz anderem als jene mit Brille. So wird von ersteren beispielsweise argumentiert, dass die Idee mit dem Lichterkranz, der wie ein
Heiligenschein bei den Verwandlungen in den Randaufzügen aus dem grün-färbenden See aufsteigt, doch recht eindrucksvoll sei, man aber für den Bagger im 3. Aufzug keine Erklärung hat, wenn man nicht sofort das Programmheft studiert hat. Bei einigen durchaus phantasievollen und gar zauberhaften Bildern in Klingsors Zaubergarten im 2. Aufzug hätte die Personenregie jedoch noch um einiges intensiver sein können.
Klingsors Zaubergarten
Was dann aber wirklich witzig anmutete und ganz und gar unerwartet kam, war Scheibs Versuch, am Ende eine ganz handfeste Real-Thematik in diesen „Parsifal“ einzuschieben. Das erinnerte stark an die Bayreuther „Ring“-Inszenierung von Frank Castorf. Thematisierte dieser noch das Rohöl als wichtigen, ja unentbehrlichen Rohstoff für die Menschheit (das würde sich Castorf heute wohl zweimal überlegen, obwohl es weiterhin der Realität entspricht), geht es bei Scheib nun auf einmal um die seltenen Erden als ebenfalls wichtige Rohmaterialien für den Industrie-Prozess. Bekanntlich werden Lithium und Kobalt sowie weitere schwer zu fördernde und nur in wenigen und teilweise problematischen Ländern vorkommende Rohstoffe in Autobatterien und überhaupt in Batterien der westlich geprägten Zivilisation verarbeitet. Dort glaubt man ja, mit Autobatterien einen signifikanten Beitrag zur Umwelt zu leisten, während das in anderen Gegenden der Welt natürlich ganz und gar gegenteilige Folgen für Ökosysteme und Menschen hat. Ich habe im bolivianischen Hochland in der Nähe des riesigen Salar de Uyuni (Uyuni-Salzsee) mit Leuten gesprochen, die aufgrund des Lithium-Abbaus ihre Dörfer verlieren und umgesiedelt werden müssen, weil Lithium natürlich in großem Maße für die Autobatterien gebraucht wird. (Nebenbei senkt seine Förderung den Grundwasserspiegel ab mit verhängnisvollen Erosions-Folgen für die umliegenden, zum Teil bewaldeten Hänge). Jetzt wird dieser neue Bayreuther „Parsifal“ also auf einmal höchst politisch!
Ekaterina Gubanova als Kundry mit Parsifal im 2. Aufzug
Diese Thematik hat aber nun wirklich gar nichts mit diesem Stück zu
tun, ist aufgesetzt wie ein Korken auf eine Sektflasche! Ja, und viele haben das gar nicht so verstanden, wenn sie sich nicht im Programmheft rechtzeitig schlau gemacht haben. Also wieder eine Produktion, die man nur mit Programmheft für sich erarbeiten kann und de facto auch muss. Das ist ja heute normal, aber bei Nicht-Programmheft-Kennern kam das eigentlich gar nicht recht an, wenn man mit ihnen hinterher sprach.
Wer aber eine Brille hatte, sah in ihnen alte Autobatterien herumfliegen ebenso wie Plastikflaschen für Öl und manche Mülltüten. Müll sammelt sich überall auf der Bühne an. Als Gurnemanz in einem völlig abgefetzten Gewand singt, dass ein jeder sich nun die Atzung selbst suche, nachdem der Gral ja nicht mehr enthüllt werde, kommt ein Wolf (oder ein übergroßer Fuchs?) und setzt sich für lange Zeit mitten auf einen ausgetrockneten Salzsee. Bis zum Abwinken fliegt eine Papiertüte durch die Brillen-Horizonte bis zum letzten Takt des Stücks! Sie wirkte wie ein Wink mit dem Zaunpfahl unter dem Motto: „Ihr Bösen, Ihr macht so viel Müll! Nehmt euch jetzt endlich zusammen!“ Wenn das dazu führt, dass beim Einkaufen demnächst nur noch Stofftaschen verwendet werden, ist es ja eine gute Idee…
Georg Zeppenfeld als Gurnemanz im 3. Aufzug
So muss man wohl sagen, dass das Wichtigste und in der Tat auch Erhellendste an dieser Produktion das zum Einsatz kommende Sängerensemble war, wobei der Sänger der Titelrolle, der Malteser Joseph Calleja, noch kurz vor der Premiere ersetzt werden musste.
Hier waren Sänger von Weltklasse zu hören, allen voran Elīna Garanča als Kundry, mit der sie ja bei großem Erfolg schon in der neuen Wiener Serebrennikov-Produktion debutiert hatte. Sie brachte mit ihrem vielseitigen und in allen Lagen bestens ansprechenden Mezzo alle relevanten Eigenschaften der Kundry an den Tag. Mit ihr auf Augenhöhe agierte Andreas Schager als Parsifal. Er hat hier einmal seine Vokalkraft gezügelt und dabei, vor allem im 2. Aufzug, sehr schöne lyrische Momente sang.
Parsifal am Ende des 2. Aufzugs
Sehr gut wirkte die schon von Beginn an quasi intime Beziehung zwischen Kundry und Parsifal. Schon in der Verführung-Szene des 2. Aufzugs ist da etwas zwischen beiden übergesprungen und bleibt bis zum Ende. Da steigt Parsifal nämlich mit Kundry in diesen Lithium-Abraumtümpel (der Bagger daneben spricht ja eine deutliche visuelle Sprache!), und man weiß sofort: Diese beiden werden die Zukunft gestalten. Weit weniger überzeugend fand ich hingegen die stumme Rolle einer Frau, die schon im wieder einmal nicht stückgerecht bebilderten Vorspiel Gurnemanz in Liebe verbunden ist und ebenfalls am Ende nach langer starrer Haltung zu ihm tritt. Offenbar ist sie mit Gurnemanz das zweite Paar, das hier die Zukunft bedeutet. Der Vergleich mit Kaiser- und Färberpaar aus dem Finale der „Frau ohne Schatten“ von Richard Strauss drängt sich unmittelbar auf. Er hat im „Parsifal“ aber nicht die Basis, die bei Strauss dramaturgisch über das ganze Stück nachvollziehbar erarbeitet wird.
Beginn des Finales 3. Aufzug
Georg Zeppenfeld ist ein mit seinem samtenen Bass herrlich singender unermüdlicher Gurnemanz, in den wohl unmöglichsten Kostümen von allen. Tobias Kehrer empfiehlt sich als Titurel für höhere Aufgaben. Nicht so ganz stimmlich überzeugte der Klingsor von Jordan Shanahan in Stöckelschuhen, einem rosa Anzug und mit einem verrückten silbernen Stierhelm. Derek Welton ist ein guter Amfortas, vielleicht etwas leicht. Siyabonga Maqungo und Jens-Erik Aasbø sind 1. und 2. Gralsritter, Betsy Horne, Margaret Plummer, Jorge Rodriguez-Norton und Garrie Davislim die Knappen. Evelin Novak, Camille Schnoor, Margaret Plummer, Julia Grüter, Betsy Horne und Marie Henriette Reinhold, die auch ein klangvolles Altsolo singt, sind Klingsors Zaubermädchen im sehr bunten Blumenambiente des 2. Aufzugs.
Ähnlich wie bei Christine Mielitz in Wien lässt hier Parsifal den Gral, der nichts anderes als ein grünblauer Klumpen Kobalt (für die Autobattereien) ist, zu Bruch gehen. Der Speer des Longinus bleibt einfach liegen, nachdem Amfortas mit ihm geheilt worden ist.
Finale 3. Aufzug
Das ist also nun die neue Technologie der AR, die streng genommen keine ist sondern eine AP. Man muss leider feststellen, dass die Brille auch recht unangenehm zu tragen ist. Sie drückt auf die Nase, und man muss sie immer mal ein paar Momente hochnehmen, um die Nase zu entlasten. Es ist also technisch noch nicht gut gelöst. Es war interessant zu sehen, wer im 3. Aufzug die Brille überhaupt noch auf der Nase hatte in den letzten beiden Reihen. Da waren mindestens ein Drittel der Leute schon ohne Brille, die Älteren praktisch alle! Ich habe nach Ende der Aufführung fünf Besucher befragt, was sie denn dazu geführt habe, die Brille abzusetzen. Sie sagten einhellig, es habe nichts mit dem Stück zu tun, es gebe einfach keinen Mehrwert. Zudem deuteten sie an, dass es auch technisch noch nicht so gut gelöst sei. Es sei einfach zu kompliziert und die Brille zu schwer. Überwogen hat aber der Vorwurf, dass das durch die Brille zu Erlebende mit dem Stück wenig zu tun hat. Und das ist doch der entscheidende Punkt.
Ich glaube, dass diese Technologie eine einmalige Idee ist, um es diplomatisch auszudrücken, ein Entwurf, der keine Zukunft haben wird – allein schon technisch nicht, zumal im normalen Opernbetrieb. Es ist viel zu teuer und viel zu sehr mit Technologie bei entsprechendem Erklärungsbedarf verbunden, sodass das „normale“ Publikum diese Brille gar nicht annehmen wird.
Das Festspielhaus
Und was noch gar nicht erwähnt wurde: Die Brille und die doch häufig notwendig werdende Beschäftigung mit ihr lenken erheblich von der Musik ab. Dabei hat der spanische Dirigent Pablo Heras-Casado bei seinem Debüt auf dem Grünen Hügel durchaus reüssiert und die komplizierte Schlagtechnik gleich gut beherrscht. Das Ergebnis des Festspielorchesters konnte sich wirklich hören lassen. Eberhard Friedrich hatte den legendären Bayreuther Festspielchor wieder exzellent einstudiert. Da haben die Leute natürlich zu Recht getrampelt, was sie meist bei allem tun. Aber es war hier wirklich verständlich, denn die Chöre sangen in der Tat hervorragend.
Mein abschließendes Urteil ist also von großer Skepsis geprägt. Ich würde den Geldgebern raten, den Kauf weiterer Brillen ernsthaft – wenn überhaupt – zu überlegen, allenfalls nach einer eingehenden schriftlichen Befragung über die Erfahrungen der Besucher, die dieses Jahr eine erworben hatten. Die Investitionskosten sind doch erheblich und werden meines Erachtens durch den Erlebnis-Gewinn nicht aufgewogen, zumal der direkte unverstellte Eindruck des Bühnengeschehens durch die visuelle Überlagerung mit den Brillenwelten gestört wird und die Wahrnehmung der dazu erklingenden Musik dadurch und durch das ständige Brillen-Handling signifikant verloren geht.
Fotos: Enrico Nawrath/Bayreuther Festspiele
Klaus Billand