Glyndebourne Festival: Parsifal - Premiere und Erstaufführung in Glyndebourne 17. Mai 2025
Ein emotional bewegender Abend!

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In der 91. Saison des Glyndebourne Festivals wurde endlich das Abschiedswerk Richard Wagners, Parsifal, welches der Gründer John Christie schon ganz zu Beginn spielen wollte, zur Erstaufführung gebracht. Es war auch die erste Auseinandersetzung der holländischen Regisseurin Jetske Mijnssen mit Wagner und ihre erste Arbeit in Glyndebourne. Diese Festspiel-Premiere war also in mehrfacher Hinsicht ein nahezu historischer Tag für das Glyndebourne Festival. Und das, was auf der Bühne des Festspielhauses zu sehen und in seiner exzellenten Akustik zu hören war, wurde allen Erwartungen nicht nur gerecht – sie wurden zeitweise sogar signifikant übertroffen.

Schon wenn der Vorhang aufgeht, wird sofort klar, dass es hier um Familiäres geht. Schon während des Vorspiels ging er kurz hoch und zeigte den siechen Amfortas im familiären Krankenbett Man sieht sich in einen Raum versetzt, der sofort an den Großen Saal der Villa Wahnfried erinnert, mit seiner charakteristischen Rundung zum Garten hin. Und da ist auch schon Kundry als Cosima Wagner zu sehen. Sie ist hier im 1. Aufzug, sie wird wie Cosima im zweiten zu erleben sein, ebenso wie alle Blumenmädchen im gleichen Cosima-Gewand und Haarputz auftreten.

Mijnssen siedelt also den Parsifal im Jahre 1882 seiner Uraufführung an und bricht die Handlung auf eine dysfunktionale Familie herunter – nur Schelme würden glauben, dass die Familie Wagner selbst gemeint sein könnte… Die Regisseurin hat dabei vollkommen nachvollziehbar Tschechow, der zur Zeit des Parsifal gerade 22 Jahre alt war und zahlreiche Kurzgeschichten schrieb, sowie Ibsen bei ihrer szenischen Deutung dieses ansonsten immer ganz groß angelegten Musikdramas im Auge.

Und dieser gewagte Schritt geht voll auf. Wir erleben eine zutiefst zerrüttete Familie um Amfortas und Titurel, der fast den gesamten 1. Aufzug auf der Bühne zu erleben ist – nebenbei eine Art Hommage an Sir John Tomlinson. Gralskönig Amfortas steht im Zentrum der Krise, ständig Heilung erflehend, aber durch die Enthüllung des Grals, die seine Gemeinschaft am Leben erhält, nie selbst Erlösung finden kann. Im Moment der Erhebung des Grals im 1. Aufzug sitzen Amfortas, Titurel und Gurnemanz, hier wie eine Art Hauspriester inszeniert, am Tisch, und man gewahrt ein intimes menschliches Drama zwischen den Protagonisten des Grals. Vor allem Titurel labt sich ausgiebig an dessen Segen, wenn Amfortas unter sichtbar großen Qualen einen kleinen goldenen Kelch erhebt, aus dem dann auch alle hereinkommenden Gralsritter trinken dürfen.

Gurnemanz beendet die Szene mit bitterem Weinen angesichts des tragischen Verfalls dieser Familie, die er bis zu einem gewissen Grade aus einer Außenposition erlebt. Grund für seine Reaktion ist wohl auch der Umgang mit Parsifal, der ebenfalls an den Tisch gebeten wurde, die angebotene Teilhabe aber entschieden ablehnt. Er ist der archetypische Außenseiter, der in dieses Biotop eindringt und der einzige ist, der die darin Gefangenen von ihren Leiden und in gegenseitigen Abhängigkeiten Verstrickten erlösen kann. Als Strafe für seine Ablehnung der Gralsspeisung wird Parsifal von den Rittern zusammengetreten – am Schluss des 1. Aufzugs schon harter Tobak!

Mijnssen bringt aber noch ein anderes interessantes Element in ihre Dramaturgie ein. Und es deutet sich schon mit einer biblischen Vorhang-Aufschrift an, in der Kain behauptet, dass er nicht der Aufpasser seines Bruders Abels sein könne. Für die Regisseurin sind Amfortas und Klingsor also wie Brüder, die sich bekämpfen, ähnlich also wie Lichtalbe Wotan und Schwarzalbe Alberich im Ring des Nibelungen. Sie will keine nur guten oder nur bösen Charaktere beschreiben, immer nur Menschen mit ihren Vorzügen und Nachteilen, wie sie eben jeder von uns hat. Dabei geht es Amfortas und Klingsor aber auch immer um Kundry, Ziel ihrer Begierde und Problem beider.

Aber damit ist auch wieder Versöhnung möglich! Und diese wird durch Parsifal herbeigeführt, der im 2. Aufzug durch einen bewegenden finalen Auftritt seiner Mutter Herzeleide und Kundrys Erzählungen sowie ihr intensives Drängen auf Verführung durch Mitleid wissend geworden ist. Seine persönliche Reifung geht so weit, dass er den gefallenen Engel Klingsor nicht dem Untergang weiht, sondern schont und mit zur finalen Versöhnung nach Monsalvat nimmt – eine wahrscheinlich so noch nie erlebte Wendung des Finales des 2. Aufzugs!

Im Finale führt die Aussöhnung mit Klingsor und die nur symbolische Rückführung eines – wie auch anderer üblicher Requisiten – nicht vorhandenen Speeres zum von aller Schuld befreiten und damit friedvollen Sterben des Amfortas. Kundry schließt ihm die Augen im Schlussbild, das eine ungeheure menschlich-tragische Wirkung entfaltet, und das bei der genialen Musik Richard Wagners!

In bester Abstimmung mit dem emotional zeitweise sehr berührenden Regiekonzept und seiner theatralischen Umsetzung war ein hervorragendes Sängerdarsteller-Ensemble verantwortlich für diese Parsifal-Erstaufführung in Glyndebourne, an die man sich noch lange erinnern wird. Sir John Tomlinson strahlte in der ungewohnt aktiven Rolle des Titurel eine ganz besondere Aura im 1. Aufzug aus mit einem immer noch eindrucksvollen Bass. John Reylea war ein in jeder Hinsicht großartiger Gurnemanz mit enormer Empathie, Wortdeutlichkeit, hervorragender Phrasierung seines in allen Lagen klangvollen Basses und emotionaler Mimik. Der Gurnemanz gewann mit Reylea eine ganz besondere Bedeutung.

Audun Iversen brillierte als unmenschlich leidender Amfortas nicht nur darstellerisch sondern auch mit einem wohlklingenden Bassbariton, in dem stets das Leiden zu hören war. Kristina Stanek gab eine überaus wandlungsfähige Kundry in diversen Rollen als zentrale Frauenfigur in dieser Inszenierung über alle drei Aufzüge. Sie sang die Rolle mit enormer Hingabe ihres leuchtenden und kraftvollen, auch in den Spitzentönen voll präsenten Soprans. Daniel Johannson war ein darstellerisch sehr guter Parsifal. Es fehlte der Stimme jedoch etwas an tenoraler Geschmeidigkeit und auch Klangfülle. Ryan Speedo Green war ein markanter Klingsor.

Robin Ticciati, der Musikdirektor von Glyndebourne, wählte mit dem London Philharmonic Orchestra passend zum Regiekonzept gemäßigte Tempi und scheute gelegentlich auch nicht vor einem gewissen Pathos zurück, was hier jedoch musiktheatralisch nachvollziehbar und damit wirkungsvoll war. Das Orchester spielte in erstklassiger Form. Viel besser klingt es in Bayreuth auch nicht. Eine gelungene Erstaufführung des Parsifal in Glyndebourne!
Fotos: Richard Hubert Smith 2-10; K. Billand 1,11
Klaus Billand