Madrid/Teatro Real: El Abrecartas Uraufführung - 24. Februar 2022

Schwierige spanische Geschichtsaufarbeitung in Madrid

„Wolf und Schaf“

„Wolf und Schaf“

Mitte Februar brachte das Teatro Real mit der Uraufführung von „El Abrecartas“ (Der Brieföffner) die sechste und letzte Oper des großen spanischen Komponisten Luis de Pablo posthum heraus. Er ist erst im Oktober des Vorjahres 91jährig verstorben, einem Jahr, in dem auch zwei weitere bedeutende spanische Komponisten verstarben, Cristóbal Halffter und Antón García Abril. De Pablo wird der „Generation der 51“ zugerechnet, einer Gruppe von Komponisten, die zwischen 1924 und 1938 geboren wurden und die Moderne in der spanischen Musik einleiteten, die in der ersten Hälfte des 20. Jahrhunderts von einer stark nationalistisch geprägten Ästhetik, auch mit erheblichem konservativen Einfluss der katholischen Kirche – gekennzeichnet war. De Pablo hat seit 1953 über 300 Kompositionen, darunter sechs Opern, geschrieben, drei davon mit dem heute 75jährigen Schriftsteller, Übersetzer, Cineasten und Dramaturgen Vicente Molina Foix als Librettist erarbeitet. Dieser schrieb auch das Libretto für „El Abrecartas“, basierend auf seinem gleichnamigen Roman aus dem Jahre 2007. Für Molina Foix war sein Roman, für den er 2007 den angesehenen Premio Nacional de Narrativa erhielt, sinngemäß ein Art Anti-Bitterkorallen-Epos voller Mäander und durchzogen von realen und fiktiven Figuren des Spaniens des 20. Jahrhunderts, die untereinander Verse und Drohungen austauschen, sich Liebesbriefe und geheime Botschaften schreiben.

De Pablo thematisiert mit dieser Oper, die er 2015 abschloss und als sein „musikalisches Testament“ bezeichnete, allerdings nur die erste Hälfte des 20. Jahrhunderts des einen größeren Zeitraum umfassenden Romans – aber damit die tragischste. Denn sie umfasst die Wirren vor dem Spanischen Bürgerkrieg 1936-39, den Bürgerkrieg selbst und die Franco-Diktatur danach. Er macht das über die damaligen großen spanischen Poeten Federico García Lorca, der bekanntlich vom Franko-Regime ermordet wurde, Vicente Aleixandre und die Liebe seines Lebens, Andrés Acero, der in Mexiko, in das er nach dem Bürgerkrieg exiliert war, Selbstmord beging, Miguel Hernández, der 1942 in den Gefängnissen des Franco-Regimes zu Tode kam, sowie Eugenio D’Ors.

Sie alle kommen in der Oper vor, ebenso wie einige fiktive Gestalten. Mit diesen soll unterstrichen werden, dass die Leiden jener Zeit mit ihrer Unterdrückung persönlicher Gedanken, Gefühle und insbesondere auch sexueller Neigungen – auch unter dem Druck der katholischen Kirche, was subtil in der Inszenierung zu sehen ist – nicht nur den intellektuellen Eliten sondern auch den einfachen Leuten blühten.

Deshalb kommuniziert man eben über Briefe, deshalb der „Abrecartas“, der Brieföffner. Bei dieser vermeintlich sicheren Kommunikationsform, der kein Späher wie Ramiro Fonseca, eine Art Incredibile aus der Oper „Andrea Chenier“, lauschen kann, weiß man eben nie ganz sicher, wer an wen schreibt, ob der Brief nicht zensiert wurde, von wem er kommt, ob er ein Fake ist oder Ähnliches. Aber man braucht immer einen Brieföffner… Viele der Texte sind fiktiv und sollen so das beängstigende Ambiente beschreiben, in dem die Künstlergemeinschaft gezwungen wird, ihre Gedanken, Gefühle und sexuellen Neigungen zu verbergen. Am Schluss gibt es ein Gedicht a capella von Alfonso und Setefilla aus dem Buch „La destrucción del amor“ („Die Zerstörung der Liebe“) von Vicente Aleixandre. Sie denken aus Liebe beide an Manuela die nicht da ist, eine Geschichte, die keiner von ihnen je vergessen können wird.

Das Stück besteht aus einem relativ melodischen Prolog, in dem die Pequenos Cantores (Kleine Sänger) de la JORCAM, unter Leitung von Ana González das zur Kindheit García Lorcas beliebte Spiel „Wolf und Schaf“ ausführen, welches nach dem Motto „Der Stärkere siegt“ bereits Schatten auf das Kommende wirft. Es folgen sechs Szenen aus den Jahren des Bürgerkriegs und der Zeit des Franko-Regime bis 1956, welche den Niedergang dieser Künstlergemeinschft bis zur Vernichtung von Lorca, Hernández und Acero zeigt.

Entsprechend ist auch die Musik. In seiner letzten Oper überrascht de Pablo mit einer ganz anderen musikalischen Sprache als in seinen anderen Opern, kantabler, expressiver und die spanische Musiktradition anregend, bis zu einem gewissen Grade durchaus experimentierend. Als Komponist mit einem besonders großen literarischen Hintergrund hat de Pablo immer ganz besonders das Wort in seinen Kompositionen fasziniert. Und das ist auch in der Musik des „Abrecartas“ zu hören. Sie steht in engstem Zusammenhang mit einem vornehmlich als Sprechgesang zu charakterisierenden Vokalstil, der jedoch zu einer klar verständlichen Diktion führt und damit den theatralischen Charakter weit mehr als den operistischen hervorhebt. Bisweilen kann das selbst in dem 90minütiugen Einakter zu einem notabeln Spannungsabfall führen, der vielleicht vermeidbar ist, wenn man das Stück und seinen kulturellen und geschichtlichen Hintergrund gut kennt. Die Musik hat des Öfteren eine kammermusikalische Ästhetik, greift nur selten auf das gesamte große Ensemble zurück, um dann aber immer wieder auch nur Einzelinstrumente spielen zu lassen – ein sehr variantenreicher und unkonventioneller Stil. Es gibt auch parodistische Momente, wenn beispielsweise ein Couplet oder eine Zarzuela anklingen.

Regisseur Xavier Aliberti schafft mit den sehr wandlungsfähigen und in einem metaphorischem Verhältnis zur Welt der Poeten stehenden Bühnenbildern eine intensive und auf die individuellen Schicksale abstellende Personenregie. Man sieht vor allem große Aktenschränke als Aufbewahrungsräume von Schriftstücken, also auch Briefen, Briefkästen, und auch einmal ein Klavier als Hinweis auf die Kunstbeflissenheit der Protagonisten. Das stimmungsstarke Licht von Juan Gomez Cornejo und die zu den Bildern passenden Kostüme von Silvia Delagneau aus der Zeit harmonieren bestens. Die Choreographie von Roberto G. Alonso stellt die jeweils agierenden Figuren wirkungsvoll in den Vordergrund, und Álvaro Luna steuert einige dezent gehaltene Videos bei.

Schlussapplaus

Schlussapplaus

Fabián Panisello, ein großer Kenner des Oeuvres von Luis de Pablo, dirigiert in seinem Debut am Teatro Real mit „El Abrecartas“ in der besuchten 5. Aufführung der Serie den von Andrés Máspero einstudierten Chor und das Orchester des Teatro Real in großer Besetzung mit äußerst exakter Zeichengebung. Die Tenöre Airam Hernández als Lorca, José Manuel Montero als Rafael, Jugendfreund Lorcas,Mikeldi Atxalandabaso als Alfonso und Jorge Rodriguez-Norton als Andrés Acero stehen den Baritonen Borja Quiza als Vicente Aleixandre und José Antonio López als Miguel Hernandez sowie dem Bassisten David Sánchez als Eugenio D’Ors gegenüber, alle auf gutem bis sehr gutem Teatro Real-Niveau. Die Sopranistin Ana Ibarra ist eine klangvolle Salvador und Setefilla. In Nebenrollen treten auf Vicenç Esteve als Ramiro, Gabriel Díaz als Comisario, Laura Vila als Sombra (Schatten) und Magdalena Aizpurua als Manuela.
Eine vielleicht etwas gewagte, aber sehr nachdenklich machende neue Oper in Spanien!

Fotos – diverse Szenen aus der Oper: Javier del Real/Teatro Real 1-7; K. Billand 8

Klaus Billand

Moderne ab ca. 1925 bis heute

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