Sofia: Chatterers UA am 2. März 2022

Uraufführung einer 50 Jahre alten bulgarischen Opernsatire – hochaktuell!

Es darf wohl durchaus als Sensation in der Opernwelt bezeichnet werden, wenn die Sofia Oper sich ausgerechnet in Zeiten einer immer noch lange Schatten auf den Kulturbetrieb werfenden Pandemie zu einer Uraufführung entschließt. Denn auch die größte Oper Bulgariens musste unter erheblichen Zuschauerbeschränkungen – mit nicht zuletzt auch finanziellen Folgen – schwer leiden. Dennoch war die Vision ihres Generaldirektors, Prof. Plamen Kartaloff, groß genug, die Opernsatire „Chatterers“ von Lazar Nikolov (1922-2005), die auf dem Roman „Chichovtsi“ („Die Onkel“) von Ivan Vazov (1850-1921) aus dem Jahre 1885 basiert und durch den Filmemacher und Dramatiker Metodi Andonov (1932-1974) 1960 eine Dramatisierung erfuhr, zum 100. Geburtstag des Komponisten uraufzuführen – allen Schwierigkeiten zum Trotz.

Eine Ikone des bulgarischen Kulturlebens, der Komponist und Dirigent Konstantin Iliev (1924-1988), hatte Kartaloff nach dem Besuch der von diesem 1988 zum ersten Mal inszenierten bulgarischen Nationaloper „Yanas Neun Brüder“ von Ljubomir Panajotow Pipkov geradezu „imperativ“ aufgefordert, die „Chatterers“ herauszubringen. Nach dem Komponisten selbst versuchte ihn auch noch seine Witwe zu überzeugen. Allein, Kartaloff konnte sich damals noch nicht dazu durchringen, auch weil er keine künstlerische, vor allem musikalische Unterstützung, fand. So war der 100. Geburtstag von Nikolov 2022 nun der passende Anlass, seine Sympathie für ein lang zurückliegendes Werk und seinen Komponisten auf der Opernbühne zu realisieren, zumal er die Zusage zweier bulgarischer Dirigenten erhielt, Boris Spasov und Zhorzh Dimitrov. Beide widmeten sich dem Stück mit hoher Motivation.

Es wurde ein großer Erfolg und bei genauerem Hinsehen und -hören auch ein Meisterwerk mit beachtlicher aktueller Relevanz, die man ihm angesichts seiner Entstehung vor einem halben Jahrhundert à priori nicht unbedingt zugetraut hätte. Dabei fiel Nikolovs Libretto 1971 erst einmal bei der bulgarischen Libretto-Kommission durch. Die Sprache sei Prosa, es gebe keine Arien, Duette, Trios etc. Aber Nikolov schuf eben einen eigenen neuen Stil! Dabei war schon Ivan Vazov mit seinem Roman der Zeit weit voraus und nahm im Prinzip den späteren Existentialismus von Camus, Beckett, Sartre, de Beauvoir und anderen vorweg. Vazov zeichnet die Sinnlosigkeit der Existenz seiner Charaktere mit scharfer Ironie und Parodie.

Und genau das greift die Opernsatire von Nikolov auf. Das Stück spielt im Bulgarien der 1860er Jahre während der türkischen Besatzung und zeigt das Leben einer Gruppe von überwiegend älteren Männern (die Onkel), wie sie über die Unerträglichkeit der Besatzung sinnieren und polemisieren, aber letztlich nichts dagegen tun. Zweimal wird der behäbige Bey hoch zu Ross über die Bühne gezogen, um sie ihrer Realität zu versichern. Stattdessen beherrschen tägliche Banalitäten ihr Leben, der Kampf um einen Fisch, der gestohlen und von anderen verspeist wurde, das Tauchen von Nachbars weißer Katze in schwarze Farbe aus Rache für eine Unannehmlichkeit, und Ähnliches. Nikolov hat auch bei Vazov noch nicht vorkommende Frauen einfügt, sodass es also auch zu regelrechten Zickenkriegen um Belanglosigkeiten kommt, die auf der Sofioter Bühne auch eindrucksvoll inszeniert werden.

All das hat Kartaloff in den Bühnenbildern von Sven Jonke, den teilweise utopischen Kostümen von Stanka Vauda sowie im gut fokussierten Licht von Ivan Lušičić in einem Sanatorium angesiedelt. Ein Sanatorium ist ein spezieller, isolierter und leicht utopischer Niemandsort, außerhalb der realen Welt und des realen Lebens. So kann man darin bestens lamentieren, ohne Konsequenzen befürchten zu müssen. „Der Zauberberg“ von Thomas Mann lässt grüßen! Eigentlich eine geniale Idee für die Selbstverlorenheit der „Chatterers“, der Schwätzer also, die bisweilen utopische Ideen zur Befreiung von den Besatzern artikulieren, am Ende aber vom bräsig Gericht haltenden Bey und seinem Hofstaat zur Räson gebracht werden. Zwischendurch akzentuiert ein mehrmals kokett durch die Bühne hüpfendes Trio aus jungen Damen, tatsächlich als „Chatterers“ benannt, die Banalität des Geschehens, deren sich die alten Herren gar nicht bewusst werden. Stanislava Momekova, Alexandrina Andreeva und Vesela Yaneva machen das ganz vorzüglich. Am Ende lässt Kartaloff angesichts der Orientierungslosigkeit der Chatterers satirisch zukunftsweisend Uncle Sam und die russische Matrjoschka-Puppe auftreten, beide bis über die Zähne bewaffnet, und den roten chinesischen Drachen seine beängstigenden Schleifen ziehen. Erschreckende und zynische Vorahnung einer auch nach den Türken nicht ganz rosigen Zukunft…

Unter den 23 (!) Solisten aus dem Ensemble der Sofia Oper, die alle äußerst authentisch und mit großem Engagement agieren, ragen Atanas Mladenov als Hadji Smion, Kostadin Andreev als Ivancho Yotata, Emil Pavlov als Mironcho,Atanas Yonkov* als Hadji Atanasiy, Nikolay Petrov (sonst in Sofia der Wotan vom Dienst) als Ivan Selyamsaz, Nikolay Pavlov als Varlaam Koprinarkata, Angel Hristov als Nikolaki und Gergana Rusekova als Selyamsaz‘ Frau heraus. Biser Georgiev gibt mit seinem klangvollen Bassbariton den allseits respektierten Alten Priester Stavri, dem eine größere Rolle zukommt. Ferner agieren Veselin Mihailov als Lehrer Gatyu, Ventseslav Anastasov als Herr Fratyu, Krasimir Dinev als Micho Beyzadeto und Rada Toteva als Varlaams Frau. Der Bey wird von Dimitar Stanchev und der Polizeichef von Stefan Vladimirov verkörpert. Dann gibt es noch Angel Antonov als Hilfslehrer Mironovski und Nikolay Voynov als Eule. Den Beginn bildet ein gesungener Prolog von Kirchensängern, die Gottes Segen herbeiflehen. Reinaldo Droz, Daniel Ostretsov und Rosen Nenchev versehen die Melodien mit lyrischen Farbtönen. Schließlich agieren beim medizinischen Personal im Sanatorium noch ein paar stumme Rollen.

Nikolov kreierte mit seiner Partitur einen eigenen bulgarischen Stil, im Prinzip auf rezitativischer Basis, mit der er die in heftigem Wortwechsel stehenden Personen umso intensiver charakterisiert. Also eben weder Arien noch Duette, sondern einen stark mit der entsprechenden Musik integrierten Sprechgesang, bisweilen auch nur Sprache. Die Musik zieht sich manchmal hinter das bisweilen hyperaktive Geschehen zurück, tritt manchmal aber auch tonangebend hervor, mit großer Dynamik und Intensität. Maestro Zhorzh Dimitrov dirigiert den wie immer sorgfältig von Violeta Dimitrova einstudierten Chor und das Orchester der Sofia Oper mit viel Verve. Er stellt zu jedem Zeitpunkt unter Beweis, dass er mit den Tücken nicht nur der schwierigen Partitur, sondern auch mit der nicht ganz einfachen Harmonie zwischen Bühne und Graben bestens zurecht kommt. Eine ausgezeichnete Leistung!

Und was bedeuten die schon 50 Jahre alten „Chatterers“, die leider nun erst das Licht der Opernwelt erblickten, für uns?! Ich denke, eine ganze Menge. Hat sich mit dem Einzug des Internets und der sozialen Medien nicht auch unser „Schwätz-Pegel“ enorm erhöht? Wird nicht allzu Banales begeistert und bis zum Abwinken transportiert, ohne dass man damit weder etwas erreichen würde noch für das bisweilen unakzeptable „Geschwätz“ belangt werden könnte? Gehen wir mal in uns…!

Szenen-Fotos: Setoslav Nikolov

Klaus Billand

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